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Ich habe einen Namen: Roman

Ich habe einen Namen: Roman

Titel: Ich habe einen Namen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Hill
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Verwirrt Sie
das Durcheinander von Krämern, Pferden und Wagen nicht? Sein Kinn fällt
herunter, als ich ihm sage, das sei nichts im Vergleich mit dem, was im Bauch
eines Sklavenschiffes vorgehe. Ein anderer Abolitionist fragt nach den
diebischen Straßenjungen der Stadt, plagen die mich nicht? Ich bin für
Straßenjungen nicht interessant, sage ich, aber an der Ecke von Old Jewry und
Prince steht ein zerlumpter alter Afrikaner mit einem Hut wie ein Schiff.
Manchmal gebe ich ihm ein paar Pence, wenn er mir die Hand entgegenstreckt. Die
Abolitionisten heulen auf: Ich muss auf mich aufpassen, sagen sie, und darf
mich nicht von Londons diebischen Faulenzern übertölpeln lassen. Nichts für
ungut, sagen sie, aber Spitzbuben und Tagediebe haben die schwarzen Herzen von
Wegelagerern.
    Ich gehe auf die Tür
zu. Ein hartnäckiger Plauderer bittet mich zu erzählen, wie ich meine Tage
verbringe. Ich gebe zu, dass ich jemanden habe, der mich zur Bibliothek bringt.
Das entlockt ihm ein Glucksen. Ich kann mir vorstellen, wie sich die Leute da
die Hälse verrenken, sagt er.
    Lach nicht, sagt John
Clarkson mit etwas zu scharfer Stimme. Ich wette, sie hat mehr Bücher gelesen
als du.
    Gegen Ende jedes
Gesprächs kommen die Abolitionisten mit kleinen Geschenken. Bei unserem letzten
Treffen habe ich ein Buch, eine Zeitung und eine harte gelbe Süßigkeit mit zwei
Erdnüssen darin bekommen. Heute hat Sir Hastings eine neue Feder und ein
gläsernes Tintenfass für mich, das mit verwirbelten indigoblauen Linien
geschmückt ist. Ich mag die Glätte und das Gewicht in meiner Hand und reibe
über die Oberfläche, aber das Indigo sitzt tief im Glas. Engländer lieben es,
eines so völlig im anderen zu versenken, dass es nur noch mit Gewalt daraus zu
befreien ist: Erdnüsse in einer Süßigkeit, Indigo in Glas und Afrikaner in
Eisen.
    Sie stehen zu dicht und
stoßen sich gegenseitig an, dann bringen mich die Abolitionisten zur Tür des
Hauses Nummer achtzehn in der Old Jewry Street. Ich steige die Treppe hinunter
und trete hinaus ins Herz von London, nehme den mir angebotenen Arm, und John
Clarkson führt mich zurück zu seinem Haus. Er wohnt ganz in der Nähe, aber
dieser Tage kostet es mich Zeit, zwei Straßen weit zu gehen. Die Menschen
strömen an mir vorbei, während wir uns langsam voranschieben, doch das macht
nichts. Ich stehe immer noch auf meinen Beinen. Ich gehe noch.
    In John Clarksons Haus
werde ich etwas Brot mit kräftigem Cheddar essen. Ich mag Essen mit einer
Stimme: Mangos, Malaguetta-Pfeffer, gekochten Ingwer mit Honig, Rum. John
Clarksons Frau war ziemlich entrüstet, als ich das erste Mal danach fragte. Rum ?
    Nach einem kleinen
Imbiss und einem Schläfchen hoffe ich, meine Feder zur Hand nehmen zu können.
Wenn ich lange genug lebe, um meine Geschichte aufzuschreiben, wird sie mich
überleben. Lange, nachdem ich zu den Geistern meiner Vorfahren zurückgekehrt
bin, wird sie vielleicht in der Londoner Bibliothek stehen. Ich stelle mir den
ersten Leser vor, der meine Geschichte findet. Könnte es ein Mädchen sein?
Vielleicht ist es eine Frau. Ein Mann. Ein Engländer. Oder ein Afrikaner. Einer
von diesen Leuten wird meine Geschichte finden und sie weitergeben. Und dann,
glaube ich, hatte mein Leben einen Grund.

Sie
nennen mich eine »Afrikanerin«
    {Sullivan’s Island, 1757}
    Wir kamen auf
eine Insel direkt vor der Küste des Toubabu-Landes. Wir waren noch ungefähr
hundert und wurden in eine quadratische Umzäunung gepfercht. Am Tor standen
Toubabu-Wachen, und einige patrouillierten auch mit Feuerstöcken und Knüppeln
zwischen uns her, aber meist blieben wir uns allein überlassen und fragten uns,
was nun aus uns werden würde.
    Mir kam es vor, als
wären wir zur anderen Seite der Sonne gereist. Hier im Land der Toubabu war sie
matt, und man schien ihr nicht trauen zu können. Nachts wurden meine Finger
dick und taub und pochten morgens, wenn sie den Himmel wieder erklomm. Meine
Ohren waren kalt. Meine Nase war kalt. Wie die anderen hatte ich ein raues Tuch
bekommen, das kaum lang genug war, um meinen Hintern damit zu verhüllen.
Zitternd schlief ich abends auf der sandigen Erde ein, und eines Morgens, beim
Erwachen, sah ich Rauch aus meinem Mund steigen. Ich dachte, mein Gesicht hätte
Feuer gefangen. Ich dachte, jemand hätte mich über Nacht verhext oder meine
Zunge angesteckt. Ich wartete auf das Brennen und war bereit zu schreien. Ich
hielt den Atem an. Der Rauch verschwand. Ich atmete. Da war er wieder. Er

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