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Ich habe einen Namen: Roman

Ich habe einen Namen: Roman

Titel: Ich habe einen Namen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Hill
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gegen das
Gesetz, diese Vögel zu töten«, sagte Lindo. »Die Leute hier schätzen sie, weil
sie das faule Fleisch und Aas fressen. Sie halten uns die Straßen sauber, ohne
dass wir was dafür zahlen müssten.«
    »Georgia würde aus so’m
großen Vogel ’ne Suppe kochen, mit Zwiebeln und Jamswurzeln.«
    »Georgia?«
    »Die Frau, die bei Master
Apbee nach mir geseh’n hat.«
    »Hat sie das?«
    »Ja, Master, hat sie.«
    »Du musst keine Angst
haben, richtig zu sprechen, Meena«, sagte Lindo. »Ich weiß, dass du lesen und
normal sprechen kannst.«
    »Sie wollen, dass ich
wie Sie rede? Wie die Weißen?«
    »Englisch«, sagte er
und hielt einen Moment inne, während wir weitergingen. »Ich bin kein Weißer,
Meena. Ich bin Jude. Du und ich, wir sind beide Außenseiter.«
    Ich hoffte, dass er den
Unglauben nicht in meinen Augen sah. Ich wollte keinen Ärger mit diesem Mann.
Wir kamen an einer Wirtschaft vorbei. Laute Männer kamen heraus, einige von
ihnen hielten Gläser in der Hand. Einer ging zur Ecke des Hauses und pinkelte
offen sichtbar für alle Vorbeikommenden gegen die Wand. Durch die Tür konnte
ich zwei Neger erkennen, die mit den weißen Männern tranken. Es kam mir
unverständlich vor. Schwarze Frauen verkauften auf dem Markt Waren, Neger
tranken mit weißen Männern, und doch war ich eine Sklavin.
    »Höre ich zwei Pfund?«,
rief eine Stimme.
    Vor einem großen
Gebäude sah ich einen weißen Mann auf einer Plattform stehen, mit einer
Afrikanerin. Sie war mit Stofffetzen bekleidet, ihre Augen schossen von links
nach rechts, und weißer Schaum drang aus ihrem Mund. Sie schlug mit der Hand
nach etwas vor ihrem Gesicht, aber da war nichts. Männer riefen Zahlen.
    »Zwei«, rief einer.
    »Höre ich fünf Pfund?«,
rief der Mann auf der Plattform. Niemand antwortete. Einige Leute lachten.
»Gentlemen, bitte. Ich verlange nur fünf Pfund. Ein bisschen Pflege wird dieses
Frauenzimmer schon wieder in Ordnung bringen.«
    Nahe der Plattform
stand eine Gruppe Afrikaner, von denen sich einige kaum auf den Beinen zu
halten vermochten. Anderen troff der Eiter aus offenen Wunden an den Beinen.
Mindestens fünf sahen so aus, als hätten sie nichts dagegen, von der alles
beendenden Faust des Todes getroffen zu werden. Ich fühlte, wie sich mein Magen
verkrampfte und meine Kehle zusammenzog, und senkte den Kopf, um ihren Blicken
nicht begegnen zu müssen. Ich hatte zu essen, sie nicht. Ich hatte Kleider, sie
nicht. Trotzdem konnte ich genauso wenig an ihrem wie an meinem eigenen
Schicksal ändern. Das war es, was das Sklaventum ausmachte: Deine Vergangenheit
war völlig ohne Belang, in der Gegenwart warst du ein Nichts, und auf die
Zukunft hattest du kein Recht. Meine Situation war nicht besser als vorher. Ich
wusste nicht, wo mein Kind war, und würde nicht mal erfahren, wenn sie seinen
Namen änderten. Ich hatte alle Hoffnung verloren, meinen Mamadu je
wiederzufinden. In den fünf Jahren, die ich jetzt in Carolina war, hatte ich
weit mehr verloren als gewonnen.
    Plötzlich vermisste ich
St. Helena ganz fürchterlich. Ich vermisste die Berührung von Chekuras Hand,
das abendliche Bibellesen mit Mamed und den Geruch von Fisch und Gemüse, der
sonntagnachmittags aus dem Suppentopf drang, während Georgia mir das Haar
machte. Ich vermisste das unablässige Zirpen der Grillen, in dem ich die
Stimmen meiner Vorfahren zu hören glaubte: Wir werden
immer so zu hören sein, immer, immer, immer, damit du uns nicht vergisst .
    Ich hob den Blick von
der Straße auf die so elend dastehenden Gefangenen und gelobte mir, ihre
Stimmen nicht vom Lärm der Stadt ersticken zu lassen. Mir meine Vergangenheit
nicht nehmen zu lassen. Es mochte weniger schmerzhaft sein, alles zu vergessen,
aber ich wollte die Augen offen halten und mich erinnern.
    Solomon Lindo
wohnte in einem großen zweistöckigen Haus in der King Street. Unten hatte er
sein Büro als offizieller Indigo-Inspektor der Provinz von Süd-Carolina,
dahinter und darüber lag die Wohnung, in der er mit seiner Frau lebte.
    Bei unserer Ankunft
wurde ich weder ausgezogen noch durchsucht. Wir traten ein, und Lindo ließ mich
zunächst einmal allein. Ich sah große Fenster, Gemälde mit Lindo und einer Frau
sowie Stühle mit besonders geformten Beinen. Als ich einen Tisch mit
Silbervasen betrachtete, kam eine Frau ins Zimmer. Sie war groß, schlank, sehr
weiß und keine zehn Jahre älter als ich. Sie trug eine Art Kappe auf dem Kopf
und ein gelbes Kleid mit einem einfachen Unterrock.

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