Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
diffuse Schatten kämpft. Minutenlang bleibe ich einfach stehen in der Hoffnung, dass mir noch ein Einfall kommt, aber das geschieht nicht.
Also mache ich die Tür zu und fahre mit dem Ärmel über die Klinke. Hier draußen im Flur höre ich die Bässe der Popmusik, die in der Nachbarwohnung läuft, und das Lachen einer Frau. Da freut sich einer des Lebens in seinem Loft mitten in London. Ich wette, mit dieser Adresse ist es leicht, Frauen anzulocken. Ich allerdings muss weg von hier.
Erst als ich ungefähr einen Kilometer gelaufen bin, suche ich mir ein Münztelefon und rufe anonym die 999 an. Fünf Minuten später falle ich mitten auf dem nassen Fußweg auf die Knie und heule – weil ich immer noch unter Schock stehe, aber auch vor Entsetzen darüber, dass ich mich in einer Situation, in der ich kühl und wachsam hätte sein müssen, so unsäglich dumm angestellt habe. Ich habe die Bierflasche neben dem Laptop stehen lassen, mit meinem Speichel am Flaschenhals.
38
J essie steht am Metalltor vor ihrem Atelier und ringt im Schummerlicht mit Schloss und Kette. »Das ist nervig, ich weiß, aber vor ein paar Tagen erst haben sie den Laden da drüben verwüstet. Sind direkt mit dem Auto reingefahren.«
»Ich dachte, der Laden hat schon in den Neunzigern zugemacht.«
»Hatte sich wohl von der Rezession erholt.«
Ich bin nicht sicher, ob ein Dieb sein Auto demolieren würde, um an Jessies Bilder heranzukommen, aber das lasse ich mal beiseite. Sie ist da – das zählt. Es verschafft mir eine kleine Verschnaufpause; ich kann mir überlegen, wie ich weiter vorgehe. Nach Hause kann ich nicht, so sehr ich mich auch nach den Kindern sehne. Sie würden mich sofort als Hauptverdächtige im Mordfall Lex festnehmen.
»Wie geht’s dir? Hast du dich mit Paul ausgesprochen?«
Ich starre sie verwirrt an, und sie tippt sich, während wir die Treppe zu ihrem Atelier hochsteigen, an die Schläfe. »Hallo? Du hast gedacht, er hätte eine Affäre!« Es ist, als wäre die Zeit zusammengeschnurrt und ich hätte im Handumdrehen gewaltige Schritte gemacht. Eine Affäre. Wie harmlos das klingt! Wo sind wir seitdem bloß hingekommen? Jessie war immerzu beschäftigt in ihrer abgeschotteten kreativen Welt, sie ist ahnungslos wie eine eben erst eingewanderte Putzfrau. Wir betreten das Atelier, und ich lasse meine Tasche und mich selbst in die mit Farben bekleckerte alte Schulbank neben dem Gasheizer fallen. »Ich habe übrigens in einer halben Stunde eine geschäftliche Verabredung. Vielleicht willst du dich in der Zeit verziehen; danach können wir dann was trinken gehen.«
»Lex ist ermordet worden.« Jessie, die gerade ein Bild beiseitestellen wollte, erstarrt mitten in der Bewegung. »Ich habe ihn eben gefunden. Die Polizisten werden denken, dass ich ihn umgebracht habe. Sie denken auch, dass ich Melody umgebracht habe.« Auf Jessies Gesicht macht sich ein Ausdruck breit, der mir inzwischen nur zu vertraut ist: absolutes Nicht-Verstehen. »Sie sind beide auf die gleiche Weise ermordet worden …« Ich verstumme, weil ich merke, dass ich ganz von vorn anfangen muss. Sie zwinkert ein paarmal und runzelt die Stirn, während sie versucht zu begreifen, was ich da erzähle.
»Warum?« Jetzt wird sie ärgerlich. »Warum ist Lex ermordet worden?«
»Ich weiß es nicht. Er muss irgendwas herausgefunden haben.«
»Was hat er herausgefunden? Denk nach, Kate!«
»Ich weiß es nicht.« Mein Blick ruht auf Jessies brüchigen Fingernägeln, überall stehen Niednägel ab, die Haut ist ausgetrocknet von Terpentin und der Kälte im Atelier, spröde von der harten Arbeit auf dem Feld der Kunst. Die Hände verraten viel über einen Menschen. Melodys Nägel waren kurz und metallicblau lackiert, was überhaupt nicht zu ihrem Kleid gepasst hat; Pauls Hände sind warm und weich, daran gewöhnt, sich durch eine PowerPoint-Präsentation nach der anderen zu klicken. »Irgendwas, das so entscheidend war, dass jemand ihn dafür umgebracht hat.«
Jessie lehnt das Bild an die Wand, wischt sich die Hände an den von Farbspritzern übersäten Hosenbeinen ab, hockt sich hin und umfasst ihre Knie, als wolle sie sich schützen vor dem, was sie zu hören bekommt. »Glaubst du wirklich, dass Paul das getan hat?«
Mir kommen die Tränen. Plötzlich erscheint mir alles vollkommen hoffnungslos. »Ich weiß es nicht. Aber was soll ich denn sonst glauben? Portia hat ihm ein Alibi gegeben …«
»Portia Wetherall?«
»Genau die.«
»Mit der bin ich gleich
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