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Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter

Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter

Titel: Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Bauermeister
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wieder einmal bekräftigt hatten, sahen wir uns mit anderen Augen. Wir waren immer wieder erstaunt über unsere eigentlich durch nichts zu erschütternde Bindung.
    Bevor unsere Zeit in Kalifornien zu Ende ging, wollten wir noch etwas mehr von dem wunderbaren Land sehen. Als Ziel eines Abschiedsausflugs wählten wir den Nationalpark Yosemite Valley südöstlich von San Francisco. Dort konnten wir uns in der Lodge nun zum ersten Mal legal als Herr und Frau Stockhausen eintragen. Wir mussten lachen, als wir an die vielen Hotels dachten, wo wir unter falschem Namen abgestiegen waren, um als Ehepaar zu gelten und überhaupt ein Zimmer zu bekommen. Zu Beginn der Sechzigerjahre benutzten wir dafür manchmal einen Studentenausweis meines Bruders, mit dem wir uns als Herr und Frau Bauermeister ausgaben.
    Wir zogen unsere Stiefel an und wanderten los, einen der Seitenberge zu besteigen, die sich aus dem langen, schmalen Tal erhoben. Es gab nur wenige Pfade, die man hinaufgehen konnte, jeweils durchzogen von wilden Bächen. Es herrschte köstliche Stille, wir hörten nur den Wind, die Vögel und unsere eigenen Schritte. Der Herbergsvater hatte uns noch vor den wilden Bären gewarnt und uns geraten, sollten wir auf einen treffen, ihm einfach aus dem Weg zu gehen. Wir hatten das zunächst für einen Witz gehalten, doch als wir etwa zwei Stunden bergauf gestiegen waren – der Sonne entgegen, die schräg über den Berg lugte –, trauten wir plötzlich unseren Augen nicht: Es tapste uns tatsächlich ein riesiger Braunbär entgegen, gerade an einer Stelle, wo der Pfad sehr schmal war.
    Stockhausen half mir schnell über eine hohe Kante und drängte mich, so weit es ging, in die Büsche hinein. Er stand mit dem Rücken zu mir, hielt mich fest, indem er seine Hände schützend nach hinten um mich legte, und blickte der Gefahr ins Auge. Mein Herz raste, ich war ja zu allem Überfluss im achten Monat meiner Schwangerschaft. Doch ich fühlte mich zugleich so beschützt von ihm, wie ich es selten erlebt hatte. In solchen Momenten erfährt man Gegenwart und ist nur mit dem Hier und Jetzt beschäftigt. Der Bär hatte sich auf seine Hinterbeine gestellt und wirkte dadurch noch riesiger. Er ließ sich schließlich wieder hinunterplumpsen – und trottete an uns vorbei. Wir atmeten auf, standen aber noch lange still beieinander. Nach einer Weile sagte Karlheinz: »Leben ist gar nicht so selbstverständlich, wie wir immer meinen.« Und nach einer weiteren Minute: »Genug Natur für heute, lass uns zurückgehen, ich habe einen Bärenhunger.«
    Wir kamen erst spätabends unten an. Die Sonne war längst hinter dem Berg verschwunden, der Himmel zwar noch hell, aber im Tal war alles dunkel bis auf die spärliche Beleuchtung aus der Herberge. Die Stimmung erinnerte mich an ein Bild von Magritte: unten eine von Laternen beleuchtete Stadtlandschaft, oben ein tagheller Himmel.
    Am nächsten Tag wanderten wir zum Fuß des großen Wasserfalls im Yosemite Valley. Die Wassermassen, die sich fünfzehnhundert Meter tief von einem Berg stürzten, lösten bei uns nach einer Weile eine optische Täuschung aus: Die seitlichen Berghänge schienen sich nach oben zu bewegen, während der Wasserfall stillzustehen schien. Wir tauschten uns aus über dieses Wechselspiel der Wahrnehmungen und mussten dabei an die Partitur von Raising Silence denken. Stockhausen konnte diese Sinnestäuschung später in Hymnen akustisch übersetzen, wo einem Wasserfall gleich die Töne immer von oben nach unten fallen. Unten verschwinden sie, und oben kommen neue dazu. So bleibt der Eindruck des Fallenden, aber trotzdem hört es sich wie eine stehende Wand an. Auf der Kanadatournee 1964 hatten wir bei den Niagarafällen Ähnliches erlebt, aber hier war es noch eindringlicher.
    Wir flogen schließlich zurück nach Deutschland, und am 5. Juni 1967 wurde unser Sohn Simon geboren. Auf der Fahrt zum Krankenhaus hatten wir eine Reifenpanne. Wiederholt von Wehen und von Lachen unterbrochen, schoben wir unser Auto zu einer nahen Tankstelle, um uns helfen zu lassen. Nach dem Reifenwechsel ging es weiter, erleichtert und immer noch lachend. Ist Simon deshalb ein so fröhliches Kind geworden? Zwanzig Minuten nach der Ankunft im Krankenhaus war er auf der Welt.
    Im Spätsommer des Jahres bat mich Stockhausen, wieder mit ihm nach Darmstadt zu den Ferienkursen zu fahren, wo in diesem Jahr alles im Zeichen seiner Kompositionen stand. Ich hätte eigentlich lieber bei den Kindern bleiben wollen, Simon

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