Ich, Heinrich VIII.
starrte sie mich an. Als ich streng zurückschaute, schlug sie die Augen nicht nieder, wie es jeder brave Untertan gelernt hat. Nein, sie fuhr fort, mich anzustarren, und eine seltsame Boshaftigkeit lag in ihrem Blick. Ich verspürte sinnlose Angst, und dann noch etwas anderes …
Gezwungenermaßen richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die zeremoniellen Worte und Handlungen, die ihren Vater Thomas zu einem Viscount machten, und dann war es vorüber, und wir konnten uns in Wolseys Große Halle verfügen, um das Festbankett einzunehmen.
Katharina sagte kein Wort und hielt den Blick gesenkt. Mir war klar, dass es erniedrigend für sie gewesen war – aber man musste den Tatsachen ins Auge sehen. Ich streckte die Hand aus und berührte sie bei der Schulter. Sie wich zurück, als habe ein Aussätziger sie angefasst. Maria umtanzte uns, erpicht darauf, zum Festbankett zu kommen. Ihr war der Herzog von Richmond gleichgültig, so oder so.
Wolsey ging voran und führte die ganze Gesellschaft in die Große Halle. Er stieß höchst eigenhändig die Tür auf, trat dann zurück und erwartete die Ausrufe des Staunens.
Er wurde nicht enttäuscht. Die Tische, die etwa dreihundert Personen Platz boten, waren mit feinstem Linnen und goldenem Geschirr gedeckt. Ein besonderer Tisch, abseits der anderen, war für den König, die Königin und diejenigen bereitet, die an diesem Tage durch die Erhebung in einen höheren Stand geehrt wurden. Taktvoll hatte er meinen Sohn auf die eine Seite, Katharina und Maria aber auf die andere Seite platziert.
Ich freute mich darauf, meinen Sohn neben mir zu haben, sodass ich mit ihm reden und ihn besser kennen lernen könnte. Bessie war auf einen Platz am »gewöhnlichen« Tisch verwiesen. Die Situation war delikat. Sie war zwar die Mutter des höchsten Ehrengastes, aber sie war eben nicht meine Gemahlin – ja, sie war sogar die eines anderen. Wolsey hatte sich an das vorgeschriebene Protokoll gehalten.
Heinrich Fitzroy war gewitzt, aber ein wenig scheu. Er beantwortete meine Fragen, schien aber selbst eher schweigsam zu sein, anders als mein Neffe Brandon, der laut redete (ohne dass er etwas zu sagen gehabt hätte) und sich allerlei Speisen nahm, ehe man sie ihm auf die geziemende Weise darreichen konnte.
Stimmengesumm erfüllte die Halle. Es herrschte zwar eine segensreiche Kühle hier im Halbdunkel, aber der Lärm war doch arg störend. Ich schaute mich um. Aus einem Gespräch mit Katharina brauchte ich mich dazu nicht erst zu lösen, da sie nicht mit mir zu sprechen beliebte, sondern lieber gesenkten Blicks zierlich auf ihrem Teller herumstocherte. Die Zeremonie hatte sie verletzt und verwirrt. Das wusste ich wohl, aber was hätte ich tun können?
Zum Schutz gegen die Mittagshitze waren alle Fensterläden der Halle geschlossen, und dies rief ein seltsames, zeitloses Empfinden hervor, wie man es nur selten verspürt … manchmal beim Aufwachen vielleicht, wenn man denkt: »Welcher Tag ist heute? Wo bin ich? Wie alt bin ich?« Es war Juni, aber es war kühl; es war Mittag, aber es war dunkel; ich war verheiratet, aber mein Sohn an meiner Seite war nicht der Sohn meiner Frau; und ich liebte Thomas Boleyns Tochter.
Ja. Ich wusste schon da, dass ich sie liebte, dass ich sie besitzen musste. Wie merkwürdig, wenn man bedenkt, dass ich noch nie auch nur ein Wort mit ihr gesprochen hatte. Wie seltsam, wenn man bedenkt (obgleich ich es damals nicht bedachte), dass ich ein vorsichtiger Mann bin und selten eine Entscheidung treffe, die ich nicht vorher lange erwogen habe. Am Ende zu handeln, fällt mir jedes Mal schwer. Aber ich wusste ohne jeden Zweifel, dass ich Anne Boleyn liebte, dass ich sie besitzen musste und dass ich sonst würde sterben müssen.
Wie hatte ich mich über die Liebe und über Liebende lustig gemacht! Ich kannte nichts davon. Ich kannte die Achtung und die Höflichkeit, die ich Katharina entgegenbrachte, das zärtliche Gelächter und die flüchtige Lust mit Bessie und die Ehrfurcht, die ich vor meiner Mutter empfunden hatte. Aber diesen Wahnsinn kannte ich nicht.
Ich musste sie sehen. Wo war sie? Irgendwo hier in der Halle! An welchem Tisch? Die Tafeln mussten aufgehoben werden.
Ich stand auf und äußerte etwas Entsprechendes. Wolsey erhob Einwände: Das Zuckerwerk sei noch nicht serviert. Und dann solle es Spiele geben, und …
»Nicht am Mittag«, erklärte ich. »Das ziemt sich nicht.« Ich starrte über die Menge hin. Wo war sie? »Ich wünsche zu tanzen.« Ja, tanzen.
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