Ich, Heinrich VIII.
unverzüglich zu einer Audienz beim König an den Hof zu begeben.
Jetzt stand ich bereit, sie in meinen Gemächern zu empfangen.
XXXVII
E s war gegen Ende April und für die Jahreszeit sehr warm. Ich hatte alle Fenster weit geöffnet (obwohl die Bienen schwärmten), um die sanfte Nachmittagsbrise hereinzulassen. Leider waren meine Gemächer nach Westen gelegen, und so fanden nicht nur die Lüfte Einlass, sondern auch die heißen, schrägen Strahlen der Sonne. Es war stickig. Schwitzte ich deshalb so sehr?
Bevor sie käme, hatte ich mich in dem welligen, aus Metall gehämmerten Spiegel in meiner Kammer kritisch begutachtet. Ich war jetzt fast sechsunddreißig Jahre alt – in einem Alter, da die meisten Männer anfingen, fett zu werden, oder schlimmer noch, starben. Ich aber war immer noch von gleicher Gestalt und Größe wie zwölf Jahre zuvor – mein Schneider hatte es mir bestätigt. Mein Leibesumfang betrug fünfunddreißig Zoll, und meine Brust maß zweiundvierzig. Keine Veränderung nach beinahe einer Generation! Stolz und aufrecht hatte ich mich dem Spiegel genähert, seitwärts war ich ihm entgegengetänzelt wie ein Taschendieb, der sich einer fetten Börse nahte. Ich hatte zwinkern und eine straffe Haltung einnehmen wollen. Aber als mein Gesicht in dem unsteten Spiegelbild Konturen annahm und nach und nach klar wurde, sah ich, dass zwar mein Körper unverändert geblieben war, nicht aber mein Gesicht, und vor allem nicht die Augen. Sie blickten mir starr entgegen, und sie waren hart und von einem Strahlenkranz von Fältchen umgeben.
Ich war nicht mehr jung.
Dies niederzuschreiben ist elementar. Es zum ersten Mal zu spüren ist verheerend.
Ich war nicht mehr jung.
Aber ich war doch immer jung gewesen! Ich war Arthurs jüngerer Bruder gewesen; ich war der jüngste König der Christenheit gewesen; ich war Katharinas junger Gemahl gewesen.
Die alt-jungen Augen starrten mir entgegen. Das Licht hinter mir betonte noch die Falten in meinem Gesicht.
Arthur ist tot, sagten die Falten. Franz und Karl sind jünger als du. Und du bist nicht Katharinas Gemahl, sondern du möchtest der eines Mädchens sein, das zwanzig Jahre jünger ist als du.
Du bist alt. Nein, nicht alt – aber eben nicht mehr jung.
Nicht mehr jung? Aber mein ganzes Leben gründete darauf, dass ich jung war!
Die harten Augen starrten mich an. Das Alter liegt in den Augen, sagte Will immer. An den Augen erkenne ich immer, wie alt einer ist. Und dies waren nicht die Augen eines jungen Mannes.
Wann ist es denn verschwunden?, jammerte ich bei mir – die uralte Klage. Nein, ich bin noch nicht bereit – nein, ich habe noch so viel zu tun –, nein, ich kann nicht gealtert sein!
Vielleicht täuschte ja das Licht! Ich drehte mich andersherum. Da war es noch schlimmer. Ich lief zu den Fenstern und schloss die Läden. Jeder Trottel wusste doch, dass Licht von hinten wenig schmeichelhaft wirkt. (Weshalb hatte ich es dann nicht zu bedenken brauchen, als ich meinen Körper studierte?)
Es nützte nichts. Schön, die Falten wirkten nicht mehr so hart. Aber der Ausdruck in diesen Augen – zynisch, wachsam –, der war immer noch da. Kein Zwanzigjähriger hatte solche Augen.
Und in einem solchen Zustand sollte ich Mistress Anne empfangen.
Und was sollte ich ihr sagen? All das, was ich ihr sagen wollte, konnte ich nicht sagen. Warum hatte ich sie herbefohlen?
Eine Viertelstunde lang wanderte ich auf und ab. Auf und ab. Auf und ab. Heißer und heißer wurde es in der Kammer. Kurios, denn die Sonne ging doch unter. Törichterweise ging mir eine Redensart im Kopf herum: Geht der Tag zur Ruh, nimmt die Hitze zu.
Ich schenkte mir einen Becher verdünnten Weines ein und stürzte ihn herunter. Es gab keinen Zusammenhang zwischen der ungewöhnlichen Wärme in der Kammer und dieser Redensart. Was ging in meinem Kopf vor? Abgelenkt, zusammenhanglos – ich konnte nicht denken. Am besten, ich konzentrierte mich auf Kleinigkeiten. Der goldene Schimmer auf der kugeligen Oberfläche der Blumenvase. Und die Blumen darin: früh erblühte Apfelknospen, die über Nacht verwelken würden.
»Eure Majestät, Mistress Boleyn ist hier.« Die Apfelblüten waren aus meinem Kopf verbannt. Mistress Boleyn war hier.
Es dauerte einige Minuten, bis sie all die Zimmer durchschritten hatte, die zwischen uns lagen.
Sie erschien in der Tür zu meiner Kammer. Ein Wächter versperrte ihr den Weg. Ich sah sie dastehen, eine kleine Gestalt in Gelb – jawohl, wieder in Gelb –,
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