Ich, Heinrich VIII.
entsetzt. Bei ihm zeigte sich das Entsetzen in diplomatischer Weise als leises Unbehagen.
»Euer Gnaden, die Königin …«
»Die Prinzessin-Witwe«, korrigierte ich. »Arthurs Witwe. Der korrekte Titel ist Prinzessin-Witwe.«
»… Prinzessin Katharina« – behände hatte er einen korrekten und gleichwohl nicht beleidigenden Titel gefunden – »ist die Tochter eines toten Königs. Was noch wichtiger ist: Sie ist die Tante eines lebenden Kaisers. Eines frommen Kaisers, der ohne Zweifel Anstoß an der Implikation nehmen wird, seine Tante lebe in Sünde.«
Genau das, was ich wollte! Wolsey war immer so praktisch. Kein scheinheiliges Geschwätz über Moral, kein verdunkelndes Problematisieren. Wolsey konnte ich vertrauen.
»Tatsachen sind oft nicht angenehm. Luthern ist er doch wacker genug entgegengetreten.«
»Zwei unangenehme Tatsachen zur selben Zeit …« Mit delikater Gebärde deutete er auf eine Schale mit Früchten. Ich nickte. Er wählte einen Apfel vom vorigen Jahr – er war weich, aber um diese Jahreszeit gab es nichts anderes. »… sind mehr, als die meisten Menschen verkraften können.« Er biss in den Apfel und machte ein betrübtes Gesicht, als er entdeckte, wie weich das Fruchtfleisch war. Rasch legte er ihn in eine Schale.
»Wer Kaiser sein will, muss es lernen. Wie Ihr es gelernt habt. Wie es jeder lernen muss, der Papst werden will.« Bei diesen Worten erhellte sich seine Miene. Er machte sich immer noch Hoffnungen auf die Papstkrone. Ah, wenn der Papst Wolsey geheißen hätte, wäre dieses ganze Gespräch unnötig gewesen. Aber Wünschen half nichts. Ein unehelicher Vetter Leos X. aus dem Hause der Medici war dem glücklosen Adrian im Jahr 1523 als Papst Klemens VII . im Amte gefolgt.
»Aber Päpste sind auch nur Menschen.«
»Und müssen sterben.« Ich lächelte.
»Und haben Sorgen. Irdische«, ergänzte er streng.
»Jetzt redet Ihr wie ein Lutheraner«, spottete ich. »Der Papst ein Mensch? Beherrscht von irdischen Problemen?«
Wolsey war an diesem Morgen nicht in der rechten Stimmung für solches Geplänkel. Ich seltsamerweise schon; ich fühlte mich beschwingt und war zu Scherzen aufgelegt.
Ich würde alles bekommen. So etwas kann einen Menschen fröhlich stimmen.
»Euer Gnaden, dies ist kein Anlass für Heiterkeit. Eure Gemahlin zu verstoßen, wird nicht leicht werden. Wenn Euer Gnaden mir vergeben wollen: Es wäre einfacher gewesen, bevor Karl Kaiser wurde … Nein, aber damals war ihr Vater … nein, er war tot. 1518 …«
»Wir leben heute!«, schrie ich. Was war los mit Wolsey? Wären wir im Garten Eden gewesen, hätten die Dinge auch anders ausgesehen – und? »Heute! Im Jahr 1527! Und ich lebe seit beinahe zwanzig Jahren in Sünde! Ich will dem ein Ende machen, und stattdessen faselt Ihr lauter Unsinn.«
Er war jetzt so erschrocken, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Und was er dann tat, ließ mich vermuten, er habe vollends den Verstand verloren: Er fiel auf die Knie.
»Euer Gnaden, ich flehe Euch an …« Tränen rannen ihm plötzlich über beide Wangen. Theatertränen: Wolsey konnte auf Kommando weinen. »… verfolgt diese Angelegenheit nicht weiter. Es liegt große Trübsal darin …«
Wie konnte er es wagen, sich anzumaßen, mich überreden zu wollen? Ich schaute hinunter auf die massige Gestalt, die drollig vor mir auf den Knien schwankte und den Fußboden meines Gemaches mit falschen Tränen benetzte.
»Auf!«
Seine Tränen versiegten augenblicklich, als er sah, dass sein Publikum nicht gerührt war. Langsam und schwerfällig kam er wieder auf die Beine.
»Ihr seid Kardinal und päpstlicher Legat«, sagte ich. »Wohl bewandert im kanonischen Recht und in kirchlichen Verfahrensfragen. Wie sollten wir den Fall angehen?« Ich zog es vor, den inszenierten Ausbruch als eine Peinlichkeit für uns beide zu übergehen.
Er tat es ebenfalls. »Euer Gnaden, ich denke, vielleicht sollte ein kleines Kirchengericht hier in England … den fraglichen Fall … untersuchen und dann dem Heiligen Vater in aller Stille einen Bericht über die unvermeidlichen Ergebnisse unterbreiten. Auf diese Weise kann die Sache, sozusagen, im Hause erledigt werden. Unnötig, den Vatikan deshalb zu bemühen.«
Sogar als er weinend auf den Knien gelegen hatte, war er in Gedanken nicht untätig geblieben. Rastete sein verschlagener Verstand denn nie?
»Ausgezeichnet«, befand ich.
»Ich selbst werde in diesem Gericht den Vorsitz übernehmen. Um den rechten Schein zu wahren, brauchen wir
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