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Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
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Mutter. Von frühester Kindheit an hatte man mich gelehrt, die Jungfräuliche Mutter und Himmelskönigin zu verehren. Figuren, die sie darstellten, standen im Kinderzimmer, und jeden Abend sandte ich ihr meine Gebete. Aber ein Bildnis gab es, das mir lieber war als alle anderen: eine elfenbeinerne Figur in der Kapelle. Sie war schlank und schön und unendlich barmherzig, und sie lächelte traurig und wie von ferne.
    Wann immer ich meine Mutter sah, hatte sie solche Ähnlichkeit mit der Elfenbeinfigur, dass meine himmlische und meine irdische Mutter in meiner Vorstellung eins wurden, und ich betete sie an.
    Und jetzt, da sie langsam hereinkam und ich ihr entgegenstarrte, da war es, als sähe ich Maria leibhaftig. Ich beugte mich vor und merkte, wie mir vor lauter Aufregung schwindlig wurde.
    Sie ging an der Seite des Königs, aber ihr Blick war starr geradeaus gerichtet. Sie sah ihn nicht an, sie berührte ihn nicht, sie sprach nicht, sondern schritt nur voran, ätherisch und unerreichbar. Ihr Mantel war blau, und ihr goldenes Haar war fast verborgen unter der juwelenbesetzten Haube. Sie erreichte die Estrade, und Arthur stand neben ihr; sie streckte die Hand aus und berührte sein Gesicht und lächelte, und sie wechselten einige Worte.
    Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie mich je so berührt hatte, und die Zahl der Gelegenheiten, da sie vertraulich mit mir gesprochen hatte, war geringer als die meiner Lebensjahre. Sie hatte mich mühelos zur Welt gebracht und ebenso mühelos vergessen. Aber diesmal vielleicht, wenn wir zur Bescherung unter uns wären … vielleicht würde sie dann mit mir sprechen, wie sie eben mit Arthur gesprochen hatte.
    Der König ergriff das Wort. Seine Stimme war dünn und flach. Er hieß den Hof auf Sheen willkommen. Er hieß seinen Sohn und Erben, Arthur – an dieser Stelle musste Arthur sich erheben, damit alle ihn sehen konnten –, zum Gelage willkommen. Er sagte kein Wort von Margaret und mir.
    Diener brachten uns verwässerten Wein, und die Speisen wurden aufgetragen: Hirschbraten, Krebse, Krabben, Austern, Hammel, Schweinebraten, Seeaal, Karpfen, Neunaugen, Schwan, Kranich, Rebhühner, Tauben, Wachteln, Gänse, Enten, Kaninchen, Fruchtkompott, Lamm, weiße Brötchen und so fort, bis ich den Überblick vollends verlor. Nach den Neunaugen konnte ich sowieso nichts mehr essen und lehnte die weiteren Gänge ab.
    »Du sollst auch nicht mehr als einen Bissen von jedem Gang nehmen«, belehrte Margaret mich. »Das ist hier etwas anderes als das Essen im Kinderzimmer! Du hast dir den Bauch mit Krabben voll gestopft, und jetzt ist kein Platz mehr für irgendetwas anderes!«
    »Das wusste ich ja nicht«, murmelte ich. Ich war schläfrig vom Wein (obgleich er mit Wasser verdünnt war); außerdem war es spät, und ich hatte einen vollen Bauch. Die flackernden Kerzen vor mir und rechts und links auf dem Tisch hatten eine wunderliche Wirkung auf mich; ich hatte Mühe, wach zu bleiben und aufrecht zu sitzen. Den prachtvollen Nachtisch, den man hereinschaffte, sah ich kaum – eine überzuckerte Nachbildung von Sheen Manor –, und keinesfalls wollte ich etwas davon essen. Meine einzige Sorge war, dass ich nicht seitwärts herunterrutschte, unter den Tisch fiel und dort einschlief.
    Dann wurden die Tafeln abgetragen, und Narren und Schauspieler kamen herein und vollführten einen scheinbar endlosen Auftritt. Ich konnte ihren Darbietungen nicht folgen und betete nur, dass sie zu Ende sein möchten, ehe ich zu meiner Schmach zusammenbräche und damit bewiese, dass Vater Recht gehabt hatte: dass ich noch zu klein war, um an einem Bankett teilzunehmen.
    Will:
    Eine freimütige Äußerung über Narren und die Art, wie das Publikum ihre Darbietungen wahrnimmt. Es war immer schon ein Fehler, uns nach einem Bankett auftreten zu lassen; mit vollen Bäuchen sind die Leute unfähig, etwas Geistiges zu sich zu nehmen. Nach dem Essen will man nicht lachen, sondern schlafen. Ich bin seit jeher der Auffassung, dass es anstelle des römischen Vomitoriums (wo sie ihren voll gestopften Magen entleeren konnten) ein Dormitorium geben müsse, wo die Leute schlafen und verdauen können. Vielleicht könnten königliche Architekten diese Idee ja in ihre Pläne einbeziehen. Es müsste natürlich unmittelbar neben der großen Halle liegen.
    Heinrich VIII.:
    Endlich war es vorüber. Die Possenreißer zogen Purzelbaum schlagend ab und warfen Papierrosen und Glasperlen über die Zuschauer hin. Der König erhob sich und

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