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Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
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hielt sich noch hartnäckig das Empfinden, England sei kein zivilisiertes Land. Man sah in uns rückständige, entlegene Barbaren – das Letztere wegen unserer schrecklichen Dynastiekriege, die seit Menschengedenken tobten. Wir waren zwar keine richtigen Wilden wie die Schotten oder die Iren, aber ein integraler Bestandteil des restlichen Europa waren wir auch noch nicht.
    Es erreichte uns alles so spät. Als ich zehn war, also um das Jahr 1500, waren Glasfenster in gewöhnlichen Häusern beinahe etwas Unerhörtes. Ein schlichter, gemeiner Engländer benutzte niemals eine Gabel (noch hätte er jemals eine zu Gesicht bekommen), trug nichts anderes als Wolle, aß nichts als die traditionellen »drei B«, nämlich Bier, Brot und Beef. Auf den Steinfußböden lagen keine Teppiche, sondern nur schmutziges Binsenreisig, und die Leute spuckten und warfen ihre Abfälle hinein. Sogar der König speiste an einer abnehmbaren Tafel, die auf Holzböcken stand, und nur eine Frau im Kindbett konnte ein Kopfkissen beanspruchen. Und dies, als italienische Fürsten in offenen, sonnendurchfluteten Villen wohnten, an intarsienverzierten Marmortischen arbeiteten und eine Vielfalt von feinen Speisen zu sich nahmen.
    Die Renaissance, die »neue Gelehrsamkeit« – dies waren fremde Wörter für uns, und alles Fremde war uns verdächtig. Unsere großen Lords versuchten immer noch, ihre eigenen Gefolgschaftsheere zu erhalten, als die Fürsten Europas schon längst begonnen hatten, alle militärische Macht in ihren Händen zu konzentrieren. Die Musik, selbst bei Hofe, bestand aus einer kleinen Schar schlechter Musikanten, die altmodische Stücke auf altmodischen Instrumenten spielten. Das Parlament wurde nur einberufen, wenn Geld für den König gesammelt werden musste, und oft genug weigerte das Volk sich, zu zahlen. Unter europäischen Botschaftern galt die Entsendung hierher als Verbannung in ein Exil, wo sie Entbehrungen zu erdulden und ein Leben unter rätselhaften und ungebärdigen Menschen zu führen hatten. Sie beteten darum, diese Zeit zu überstehen und irgendwann zum Lohn an einen »richtigen« Hof entsandt zu werden.
    Freilich, das gemeine Volk kam stets auf die Straße und gaffte, wenn der englische König von einem Palast in den anderen zog. Für das Volk waren wir groß. Sie kannten nichts Besseres, im Gegensatz zu den Ausländern; die aber machten sich lustig über den König und über unseren schäbigen, plumpen, altmodischen Prunk.
    Mit zehn wusste ich das alles natürlich noch nicht, aber ich spürte es. Ich sah, wie die Spanier zögerten, ihre Tochter tatsächlich herzuschicken, den unterzeichneten Verträgen zum Trotz, in denen sie es versprochen hatten. Ich sah, dass der König von Frankreich oder der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches niemals mit Vater zusammentrafen, weder an seinen Hof kamen noch ihn je einluden, den ihren zu besuchen. Ich sah, dass die Botschafter, die zu uns entsandt wurden, alt waren und sich schlecht kleideten und dass manche Länder überhaupt keinen Botschafter zu uns schickten.
    Wenn Arthur erst König wäre, würde das anders werden, hoffte ich. Ich wünschte mir, dass in ihm der alte Arthur wieder auferstände – als mächtiger König, voller Ehre und Kraft und einer Art Glanz, durch den sich alles ändern würde. Und während ich mich verzweifelt bemühte, mich zu einem Kirchenmann heranzubilden, stellte ich mir vor, wie seine Regentschaft auch der Kirche ein neues Goldenes Zeitalter brachte. Unter Arthur würden die Klöster als Stätten der Gelehrsamkeit erblühen, die Priester sich wieder dem Erlöser zuwenden … und so fort. Ja, ich gab mir große Mühe, mich zu einem Geistlichen zurechtzuschleifen. Es war immer meine Überzeugung, man müsse sich, ganz gleich, zu welchem Stande man berufen sei, ihm mit ganzem Herzen widmen. Obschon andere das fromme Leben für mich auserwählt hatten, glaubte ich doch, dass es mir so bestimmt sei. War nicht auch der Prophet Samuel dem Herrn versprochen worden, noch ehe er geboren war? Gott hatte mich auserkoren: Gott musste etwas Besonderes für mich zu tun haben. Und so war es auch, wenngleich nicht so, wie ich es mir anfangs gedacht hatte. Habe ich als König nicht Gottes Werk verrichtet? Den wahren Glauben verteidigt und die Englische Kirche vor den Irrtümern des Papismus bewahrt? Und hätte ich das tun können, hätte ich das Rüstzeug dazu gehabt, wenn ich meine Kindheit nicht in heiligem Studium verbracht hätte? Nichts ist vergeudet,

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