Ich, Heinrich VIII.
als ich im kalten blauen Morgengrauen Stimmen vernahm. Eine leise Melodie drang an mein Ohr, so leise, dass sie mir fast wie eine Traumfantasie erschien, leicht und klar schwebend, himmlisch … Engel? Ich gab mich ihnen hin, fühlte, wie ich emporgetragen ward, schwerelos, mit ausgestreckten Armen. Das also war der Tod … der Übergang in die Obhut Gottes …
Als ich erwachte, war es helllichter Tag. Ich wusste, ich gehörte noch nicht auf die Erde, und ich zögerte, zurückzukommen, Schuhe anzuziehen, mir die Haare zu kämmen, andere Menschen zu sehen.
Als ich in den Speiseraum hinaustrat, gellte mir ein großer Tumult in den Ohren. Ich schaute zum Fenster hinaus und sah eine Schar Studenten unten auf der Straße; sie trugen Kostüme und schwenkten Maizweige.
Der erste Mai. Es war Mai.
Langsam den Kopf schüttelnd, wandte ich mich um und sah einen jungen Studenten, der mir den Tisch deckte. Er trug einen fremdländisch gehörnten Helm auf dem Kopf und war über und über mit bunten, wehenden Bändern behangen.
»Einen gesegneten Mai, Eure Majestät!«, rief er.
»Danke. Das hatte ich vergessen.«
»Dann habt Ihr das Singen nicht gehört?«
Aye. Ich hatte das Singen gehört. »Was für ein Singen?«
»Die Hymne an den Mai. Ein Chor singt sie jedes Jahr im Morgengrauen des ersten Mai vom Turm des Magdalen College herab.«
Dann waren es also doch menschliche Stimmen gewesen.»Das hatte man mir nicht gesagt.«
»Das tut mir von Herzen leid, Euer Gnaden.« Er schien es ehrlich zu meinen.
»Diese Kostüme«, sagte ich. »Tragt Ihr die den ganzen Tag?«
»O ja! Obgleich sie immer nass geregnet werden; zumindest frieren wir doch darin. Aber das gehört alles dazu. Die Legende sagt, der Teufel halte seinen Teil der Abmachung immer noch ein. Der Teufel ist ein zuverlässiger Bursche.«
Ja, das war er. »Inwiefern?«
»Nun, wir hier in Oxfordshire ziehen eigentlich unseren Apfelwein jedem Biere vor. Aber es war einst ein einheimischer Bierbrauer, der verkaufte dem Teufel seine Seele, und der Teufel versprach dafür, um den ersten Mai herum stets ein wenig schlechtes Wetter zu schicken, um die Apfelblüte zu verderben. Und so ist der erste Mai immer ein kalter, nasser Tag.«
»Immer?«
»Der Teufel hält, was er verspricht.«
»Der Teufel ist ein Gentleman.«
»In der Tat, Euer Gnaden! Genauso muss man es sagen!«
LXI
G leich nach Michaelis, als die Bankette hinter uns lagen und die Reste der Gänsekarkassen fortgeräumt waren, wurde mein Sohn vermählt.
Heinrich Fitzroy war jetzt fünfzehn und hatte sich in die zwei Jahre jüngere Schwester seines Gefährten Henry verliebt, in Mary Howard.
Der Versuch, ihm zu sagen, er solle warten, bis diese Anwandlung vorüber sei, hätte nichts genutzt. Nicht, weil sie nicht vorübergegangen wäre (was sie aber ohne Zweifel eines Tages getan hätte), sondern weil ich, wäre erst die Zeit zum Heiraten für ihn gekommen, niemals eine Braut gefunden hätte, die sich besser geeignet hätte als diese Tochter aus dem Hause Howard. So gab ich der Hochzeit meinen Segen und veranlasste, dass die Trauung in der St.-Georgs-Kapelle in Windsor stattfinden sollte.
Es sollte keine Staatsaffäre werden, wenngleich Fitzroys Titel ihm unter den Peers von England einen Achtung gebietenden Rang verliehen: Er war Herzog von Somerset, Lord Aufseher der Grenzmarken, Lord Statthalter von Irland und Lord Hochadmiral von England, Wales und Irland, der Normandie, der Gascogne und Aquitanien. Es sollte einfach deshalb keine Staatsaffäre werden, weil dergleichen ausgerechnet zu der Zeit, da allenthalben der Eid zur Thronfolge geleistet wurde, ungebührlich viel Aufmerksamkeit auf einen weiteren Thronfolgeberechtigten gelenkt hätte. Die Angelegenheit war schon hitzig genug, wenn die Loyalität des Volkes nur zwischen den beiden Mädchen, Maria und Elisabeth, hin und her gerissen wurde. Da wäre es politisch nicht klug gewesen, auch noch alle Welt an den hübschen, heiratsfähigen Königssohn zu erinnern.
Und er war hübsch. Ich war stolz auf ihn, stolz auf seine Familienähnlichkeit mit den Tudors, stolz auf seine Empfindsamkeit und seine königliche Haltung.
Ein weiterer Grund war der, dass Anne nicht gern an meinen lebenden Sohn erinnert wurde, weil sie es nicht vermocht hatte, mir selbst einen zu schenken. Dass Bessie es getan hatte, empfand sie immer wieder von neuem als Beleidigung.
Ich stand ratlos vor der Frage, weshalb Anne es nicht vermocht hatte. Daran, dass wir nicht oft genug
Weitere Kostenlose Bücher