Ich, Heinrich VIII.
Licht. Es schien hinter einer Ecke hervor.
Ich drückte mich flach an die Wand und spähte um die Ecke.
Ich erwartete, Räuber zu sehen, die ihre Säcke mit Mores kärglicher Habe füllten. Lachend würden sie alles hineinstopfen, es entweihen, und wahrscheinlich gaben sie das Geld in Gedanken schon aus.
Aber da war kein Einbrecher. Da war nur More. Nackt bis zur Hüfte kniete er auf einer Strohmatratze.
Auf seiner Schulter lag eine Peitsche. Aber keine gewöhnliche Peitsche. Ich erkannte die Geißel; man nannte sie »Disziplin«: Ein kleiner Metallring, an dem fünf Ketten angebracht waren, deren jede in einem Widerhaken endete. Ich sah, wie er sich selbst damit schlug, langsam und rhythmisch, und dabei murmelte er die ganze Zeit: »Es ist für Dich, o Herr, für Dich. Lösche aus mein Denken und Erinnern. Für Dich, Herr, für Dich.«
Er wiegte sich auf den Knien vor und zurück, geißelte sich und betete.
Sein ganzer Oberkörper war zerschnitten und blutig. Striemen bedeckten seinen Rücken. Aber sie zogen sich durch Fleisch, das ohnedies gereizt und entzündet war. Gelbe Pusteln blühten wie böse kleine Blumen überall auf Brust und Rücken, und die ganze Haut war leuchtend rot. An seinem Oberkörper fand sich keine Stelle, wo die Haut nicht gezeichnet gewesen wäre.
»Verzeih mir, Herr, dass mein Leiden nicht an Deines heranreicht«, sang er. »Ich will es steigern, um Dir zu gefallen.« Wieder hob er die »Disziplin« und kasteite sich damit. Jeder fünffache Schlag ließ ihn aufstöhnen, und doch hielt er nicht inne. Blut quoll aus den frisch klaffenden Schnitten, rann zu seinen Hüften hinunter und tröpfelte auf den Boden.
»Nicht annähernd kann ich empfinden, was Du gelitten, o Herr«, murmelte er. »Was ich hier tue, ist noch ein Vergnügen.« Und er peitschte sich, bis seine Schultern ganz und gar aufgeplatzt und roh waren. »Es ist nicht genug!«, rief er und warf sich flach auf den Boden. »Ich kann es nicht bis zum Ende. Gib mir nur Kraft.«
Es stand kein Kruzifix vor ihm, doch er schien eines zu sehen.
Seine Hand – sie zuckte jetzt, gehorchte aber noch immer seinem Willen – umklammerte von neuem die »Disziplin«. Er hielt sie mit ausgestrecktem Arm und schlug sich dann damit ins Gesicht.
»Wie Du willst, Herr, wie Du willst.«
Blut lief ihm übers Gesicht und auf die Schultern, wo es zu einem obszönen Muster verrann.
»Ich will Dir noch mehr geben«, murmelte er wie in Trance. Wieder traf die Peitsche ihn mit voller Wucht ins Gesicht. Ich fürchtete um seine Augen. »Mehr, o Jesus!« Es klatschte noch einmal. Das Blut strömte jetzt wie ein Frühlingsquell an seinem Halse herunter.
Plötzlich warf er sich vor seiner Vision neuerlich zu Boden. »Genug? Aber, o Herr, ich würde noch so viel mehr tun … Dir so viel mehr geben!«
Lange Zeit lag er regungslos da; dann richtete er sich mühsam auf den Knien auf.
»Dein Wille geschehe, o Herr«, sagte er und kroch zu einem dunklen Hemd, das dort auf dem Boden lag. Er begann, es anzuziehen, und dabei schrie er vor Schmerzen.
»Dein Wille geschehe, o Herr!«
Er zog das Hemd herab. Es endete an seiner Hüfte und hatte keine Ärmel. Ein härenes Hemd. Jetzt wusste ich, woher die grässliche, gepeinigte Röte seiner zarten Haut gekommen war und was die Pusteln und Entzündungen hervorgerufen hatte. Die Spitzen von Rosshaaren – zusammengebunden, damit sie besonders hart und stachlig waren – bohrten sich innerhalb weniger Stunden in die Haut. Härene Hemden wurden eigens dazu gewoben und hergestellt, das Fleisch dessen, der sie trug, zu peinigen.
Trug man ein solches Hemd über frischen Geißelstriemen und Schnitten – welche Qualen musste man da leiden? Offenbar zu wenig für More und seinen folternden Gott.
Jetzt zog er ein Leinenhemd über das Haarkleid. Trug er dieses härene Wams etwa immer? Jeden Tag? Seit wann schon? Die Antworten auf diese Fragen würde ich nie erfahren. More würde es niemals erzählen, und ich könnte niemals danach fragen.
Aber ich kannte die Antwort auf meine eigene quälende Frage. More würde die volle Strafe des Gesetzes anstreben – als weitere Züchtigung. Und ich würde zwangsläufig derjenige sein müssen, der sie ihm verabreichte.
In diesem Augenblick hasste ich ihn – ich hasste ihn, weil er mich zu seiner Geißel machte. Das also war ich die ganze Zeit gewesen: seine Geißel, seine Verlockung, seine Prüfung. Ich war kein Mensch für ihn, sondern eine abstrakte Versuchung, die
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