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Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
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Morgen hatte ich noch immer die Absicht, Anna zu besuchen (oft wurde ich über Nacht anderen Sinnes, und deshalb zog ich es stets vor, eine Sache zu überschlafen). So weckte ich acht Kammerherren meiner Privatgemächer und forderte sie auf, sich bereitzumachen: Sie sollten mich nach Rochester begleiten. Es war kein weiter Ritt, und es hatte aufgehört zu schneien; wir erreichten die Burg, bevor es dunkelte. Unterwegs spürte ich, wie meine Erregung mit dem Knirschen der Hufe im gefrorenen Schnee wuchs. Ich spürte es mit Erstaunen, denn ich hatte solche Empfindung längst tot geglaubt, und ich bemühte mich, sie zu beherrschen, denn mit solch wildem Überschwang geht Nervosität einher, ein flaues Gefühl im Innern, eine hinderliche Scheu und eine Furcht, die fast hilflos macht. Doch es war nutzlos, und am Ende überließ ich mich dem Gefühl und schwamm in der Schwindel erregenden Ekstase liebevoller Erwartung.
    Als wir uns dem grauen, jetzt von glattem Eis überzogenen Mauerwerk näherten, klopfte mir das Herz so laut, dass es in meinen Ohren klang wie der Flügelschlag eines Falken, der das Handgelenk verlässt. Sei ruhig, sei ruhig, sei still … nein, freue dich! Fliege so hoch, wie du nur willst, mein Herz!
    Hinein in die Burg, vorbei an der verblüfften Wache. Überall war es still; die Burg lag großenteils verlassen, denn alles war an diesem zweiten Tag des Jahres 1540 in der Großen Halle zusammengeströmt, und man trank und plauderte. Ich hieß meine Begleiter sich dazugesellen und verbot ihnen, mir zu folgen, derweil ich Lady Anna aufsuchte. Sie gehorchten.
    Und nun machte ich mich auf den Weg zu den Privatgemächern, in denen Anna sich vermutlich aufhielt; der Gang, der zur Eingangstür führte, war so dunkel, dass ich mich vorantasten musste, und mir war zumute, als nähme ich an einem Mummenschanz teil, einer sorgfältig inszenierten Neujahrsunterhaltung, wie ich es schon so viele Male getan.
    Das harte Eisen der Tür fühlte sich unnachgiebig, steif an. Ich wuchtete sie auf, und das Eisen kreischte wie eine Hexe, und langsam, langsam schwang die Tür auf. Ich spürte, wie mein Haar sich sträubte und meine Kopfhaut kribbelte, und die ächzende, knarrende Tür steigerte meine Spannung noch mehr …
    Ihr Kleid war aus goldenem Brokat. Prächtig! Sie hatte mir den Rücken zugewandt und schaute durch den schmalen Fensterschlitz hinaus auf die verschneite Landschaft dort unten.
    »Anna!«, rief ich.
    Sie zuckte zusammen und fuhr herum. Aber ich konnte nichts von ihr erkennen, denn das Licht umstrahlte sie von hinten. Sie sprach kein Wort, sondern stieß nur einen entsetzten Schreckensschrei aus.
    Mein langer brauner Wollmantel! Ich hatte vergessen, ihn abzulegen, und nun stand ich vor ihr, angetan wie ein Straßenräuber. Kein Wunder, dass sie Angst vor mir hatte – Angst um ihr Leben! Ich riss mir den Mantel von den Schultern und stand vor ihr in meinem goldengrünen Staatsgewand.
    »Anna!«, rief ich voller Freude. »Ich bin es, König Heinrich!«
    Sie kreischte auf und schlug sich dann die Hände vor den Mund. »Herr, steh mir bei! Wie in aller Welt …« Es waren deutsche Worte; ich verstand sie nicht.
    Sie wusste nicht, wer ich war. »Ich bin Heinrich, der König!«, wiederholte ich.
    Eine Frau kam aus dem Nachbarzimmer gestürzt; eine Wache war bei ihr. Der Soldat hatte ein junges Gesicht, aber einen Körper wie ein alter Eber. Er verbeugte sich und fing dann an zu schnattern, und zwar in der hässlichsten Sprache, die ich je gehört hatte; es klang, als rumore es im Gedärm. Anna antwortete in den gleichen Tönen. Dann stammelte der Soldat in gebrochenem Englisch: »Vergebt der Lady, König Heinrich; sie glaubte, Ihr wäret ein Knecht, ein Stallbursche.«
    Inzwischen hatte sich Lady Anna vor mir verneigt, und ich sah, dass ihr ganzer Kopf von einem grotesken Hut mit steifen Flügeln und zahllosen Falten verborgen war – der Windvogel eines Wahnsinnigen. Sie richtete sich auf, und erst jetzt sah ich, wie riesig sie war, ein weiblicher Goliath. Und als sie das Gesicht zu mir hob …
    Sie sah widerwärtig aus! Ihr Gesicht war braun wie das einer Mumie und von Pickeln und Pockennarben übersät. Es war hässlicher als die Gesichter der Ausgeburten, die man auf Jahrmärkten zur Schau stellte – das Affenweib, die Krokodiljungfer – es war Ekel erregend …
    Speichel besprühte mein Gesicht. Das Wesen sprach, und seine Sprache war keine Sprache, sondern eine Folge von Grunzen und Blähungsgrollen.

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