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Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
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färbte den Nebel blau, als wolle sie uns in ewigem Zwielicht ertränken. Fackeln loderten in den Straßen Londons, obgleich es Mittag war, als die Leichenprozession sich unter gedämpftem Trommelklang vom Tower nach Westminster schlängelte. Zuerst kam die dreihundertköpfige Garde, dann der Leichenwagen, ein geschlossenes Gefährt, an die zwanzig Fuß hoch, ganz in Schwarz und von acht schwarzen Pferden gezogen; obenauf stand das (in meinen Augen) abscheuliche Bildnis der Königin, lächelnd in ihren königlichen Gewändern. Es folgten siebenunddreißig junge Frauen, eine für jedes Jahr ihres Lebens. Ihre Kleider waren weiß wie der Nebel, und sie trugen weiße Kerzen. Danach kamen der König, und Margaret, und Maria, und ich.
    Mit der Prozession war die Prüfung nicht zu Ende. In Westminster angelangt, hatte ich noch ein Requiem und eine Lobrede zu erdulden. Der Leichenwagen wurde bis ans Ende des Kirchenschiffs gefahren, wo er den nächsten, den furchtbaren Teil erwartete: die Beerdigung.
    Ich glaube, Warham zelebrierte die Messe; ich erinnere mich nicht. Aber dann erhob sich ein junger Mann, um die Lobrede zu halten. Jemand, den ich noch nie gesehen hatte.
    »Ich habe eine Elegie auf die Königin verfasst«, sagte er. »Mit Eurer huldvollen Erlaubnis möchte ich sie verlesen.« Die Stimme des Mannes war seltsam betörend, doch zugleich auch sanft.
    Der König nickte knapp. Der Mann begann. Er hatte seine Worte gesetzt, als nehme die Königin selbst von uns allen Abschied. Das hatte mir den größten Schmerz bereitet: Sie hatte nichts gesagt, mir nicht Lebewohl gewünscht. Jetzt versuchte dieser Mann, ihr Versäumnis nachzuholen – als habe er davon gewusst. Aber wie konnte er es wissen?
    Adieu! Mein lieber Gatte, edler Herr!
    Die treue Lieb, die beiden uns gewährt
    Im Ehebund, im friedevollen Haus,
    In deine Hände leg ich sie zurück,
    Dass uns’re Kinder du mit ihr besegnest.
    Vordem warst du nur Vater, jetzt musst du auch
    Der Mutter Teil verströmen, da, weh! ich nun hier lieg.
    Adieu! Lord Henry, lieber Sohn, adieu –
    Dass Gott dir Ansehn mehren mög und Güter …
    Seine Stimme, seine bloße Anwesenheit erfüllte mich mit außergewöhnlichem Frieden. Es waren nicht die Worte an sich; es war eher ein großes, ergreifendes Mitgefühl. Etwas, das ich vielleicht zum ersten Mal fühlte.
    »Wer ist das?« Ich lehnte mich zu Margaret hinüber, die immer wusste, wie einer hieß und was er war.
    »Thomas More«, flüsterte sie. »Der Rechtsanwalt.«
    Als ich mich an diesem Abend zum Schlafengehen bereitmachte, war ich so müde wie nie zuvor. Es war schon seit Stunden dunkel; als wir die Abtei verlassen hatten, war das matte Tageslicht längst vergangen.
    Auf meinem Nachttisch stand ein Becher Glühwein. Ich lächelte. Schwester Luke hatte wohl dafür gesorgt, hatte an mich gedacht, obwohl ich längst nicht mehr in ihrer Obhut war. Ich nahm den Becher in die Hand. Der Inhalt war noch warm. Er schmeckte nach Honig und Wein und noch etwas anderem …
    Ich schlief. Aber es war kein Schlaf wie sonst. Ich träumte, ich stände am Ende des Gartens zu Eltham. Und die Königin kam auf mich zu und sah aus wie beim letzten Mal, da ich sie gesehen hatte – lachend und gesund. Sie streckte mir die Hände entgegen.
    »Ach, Heinrich!«, sagte sie. »Ich bin so glücklich, dass du König sein wirst!« Sie beugte sich vor und küsste mich. Ich konnte ihr Rosenwasserparfüm riechen. »Ein so hübscher König! Genau wie mein Vater! Und du wirst eine Tochter bekommen und sie Elisabeth nennen, genau wie er.«
    Ich stand auf, und wie es in Träumen wundersamerweise zu geschehen pflegt, war ich größer als sie und älter; sie aber blieb unverändert. »Bleibt bei mir«, sagte ich.
    Aber sie verblich oder wich zurück – ich konnte es nicht sagen. Meine Stimme bekam einen verzweifelten Klang. »Bitte!«
    Aber sie war bereits zu etwas anderem zerflossen – zu einer fremden Frau mit einem blassen, ovalen Gesicht. Ich hatte Angst vor ihr. Die Frau aber flüsterte: »Wollt Ihr König sein, benehmt Euch wie ein König!« Und sie lachte hysterisch. Dann verblasste auch sie.
    Ich erwachte mit pochendem Herzen. Einen Augenblick lang glaubte ich, es müsse noch jemand in der Kammer sein. Ich riss die Bettvorhänge auf.
    Da war nichts als sechs Vierecke aus Mondlicht, ein genaues Abbild der Scheiben meines Fensters. Doch es war mir so real vorgekommen …
    Ich legte mich wieder hin. War meine Mutter mir wirklich erschienen? Nein. Sie war

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