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Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
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Stille.
    Jetzt bekam ich wirklich Angst. Ich brauchte meine Stimme wieder. Dies war ein Notfall; ich brauchte sie nicht für mich, sondern für England. Und noch immer erhörte Gott mich nicht. Und wenn er mich jetzt nicht erhörte …
    Vormittag. Brandon erschien. Er sah alt aus, fand ich. Wie unberührt wir das Altern unserer Zeitgenossen beobachten – als wären wir von diesem Prozess irgendwie ausgenommen, oder als gälte er nicht für alle gleichermaßen, und als habe unser armer Freund eine doppelte Dosis davongetragen, während wir mit sehr viel weniger davongekommen seien.
    Ich hatte bereits eine Liste von Fragen vorbereitet, die ich ihm nun gab. Seine Augen über den Tränensäcken überflogen sie rasch.
    »Jawohl, die Rebellen sind mehr geworden. So stand es heute Morgen in der Depesche. Natürlich ist sie vier Tage alt … die Straßen um diese Jahreszeit …« Er schüttelte den Kopf. »Alles in allem sind es immer noch weniger als fünfhundert. Sie spielen das alte Lied, Euer Gnaden. Wer danach tanzen wollte, konnte schon während der Pilgerschaft die Beine schwingen. Und danach – in Ketten und schließlich am Galgen.«
    Trotzdem haben sie immer noch genug Rekruten, um von neuem zu beginnen, dachte ich. Einen unerschöpflichen Vorrat von Unzufriedenen und Verrätern schien es dort zu geben – wie Unkraut im Frühling.
    »Soll ich sie vernichten, Euer Gnaden?« Eine einfache Frage.
    Ich nickte. Mache diesem Unwesen sofort ein Ende. Reiße die Pflanze heraus, mitsamt ihren Wurzeln. Und dies war nun die Gegend, in die ich mich wagen sollte – mit meiner Königin. Unversehens erfüllte mich eine wilde Gier, dieses geheimnisvolle Land zu sehen, den Norden, der Nebel und Rebellen in gleichen Mengen hervorbrachte.
    »Soll ich mit äußerster Gewalt vorgehen?« Soll ich brutal und schnell töten?
    Ich nickte. Der sanftere Weg war langfristig oft der grausamere.
    Er verneigte sich und zog sich zurück.
    Brandon. Auf ihn konnte ich mich verlassen. Seit einem halben Jahrhundert – oder doch fast so lange – war er jetzt meine rechte Hand. Aber wenn er versagte wie meine Stimme – was dann?
    Das Eis an meinen Fenstern schmolz, als die Sonne höher stieg. Seit Weihnachten waren die Tage merklich länger geworden, wenngleich noch nicht so lang, dass der Winter zu Ende gewesen wäre. Und im Norden würden bis April bitterer Frost und eisige Dunkelheit herrschen. Brandon, der alte Soldat, würde Mühe haben, in die Gegend einzudringen. Fluch über die erbarmungslosen Verräter, dass sie meinen liebsten Freund dort hinaufriefen, da ich als König ihn nicht vom Dienst für England entbinden konnte.
    Ich begann das undurchsichtige Eis mit dem Fingernagel abzukratzen. Ich fühlte mich ringsum eingeengt, aber in diesem Fall konnte ich Abhilfe schaffen. So konnte ich zumindest aus dem Fenster schauen.
    Ich brauchte ein Tuch, um die Eisspäne und die geschmolzenen Tropfen abzuwischen. »Ein Tuch«, murmelte ich, und der Page drückte mir eines in die Hand. Ich wischte kräftig über die verschmierte Scheibe, bis sie wieder klar glänzte und ich die weiße Welt draußen so deutlich sehen konnte, als läge sie unmittelbar vor meinen Augen.
    »Ah«, sagte ich. Dann fuhr ich auf.
    Ich hatte gesprochen und war gehört worden. Meine Stimme war wieder frei.
    »Danke«, sagte ich ganz natürlich zu dem Pagen. Er nickte. »Es ist hübsch.« Ich hörte meine eigene Stimme wie die eines Fremden. »Ihr mögt jetzt gehen.« Er verneigte sich und gehorchte.
    Als ich allein war, blinzelte ich in aufgeregtem Staunen. Sie war wieder da. Meine Stimme war wieder da. Ich bekreuzigte mich und flüsterte: »Ich danke Dir. Du hast meine Gebete erhört.« Und ich ging hinüber zu meinem Betstuhl und schaute zum gekreuzigten Jesus hinauf. Ich sah ihm geradewegs in die Augen, und sie schienen lächelnd auf mich herabzublicken.
    Warum hatte Gott in Seiner Unberechenbarkeit beschlossen, mir meine Stimme zu einem so unbedeutenden Befehl zurückzugeben? Ein Tuch, um ein gefrorenes Fenster zu putzen – dafür hatte er meine Stimmbänder gelöst.
    Gott ängstigte mich. Ich verstand Ihn so viel weniger, als ich Ihn immer zu verstehen geglaubt hatte.

    Der Page erzählte allen, dass ich gesprochen hatte, und bald holte man mich aus meinem Andachtswinkel.
    Jetzt, da ich wieder wohlauf war, präsentierte mein Rat mir all die scheußlichen Einzelheiten des Aufstandes im Norden. Die verräterischen Reden – »Der König ist ein Agent des Teufels«; »Der

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