Ich, Heinrich VIII.
dergleichen so alltäglich sein, dass niemand es mehr merken wird.«
»Aber es sind Lügen!«
»Ja?«
»Er behauptet hier« – wütend blätterte ich, bis ich die Stelle gefunden hatte –, »Cromwell habe Catherine verhört! Aber Cromwell ist tot! Ist er zu diesem Anlass etwa wieder zum Leben erwacht?« So. Das war der Beweis.
»In der Tat, das ist er.« Chapuys lachte leise – ein überlegenes, leises Lachen. »Und noch viele Cromwells werden es tun, in diesem wundervollen« – fast spuckte er mir das Wort vor die Füße – »neuen Zeitalter, dessen Geburtshelfer Ihr gewesen seid. Ohne Respekt vor der Autorität – zertretet den Papst! – und bei übertriebener Achtung vor dem Individuum – oh, der Engländer ist ein Gott! – wird dergleichen im Überfluss vorkommen. Ihr solltet Euch daran gewöhnen. Die Wahrheit ist das, was irgendein gemeiner Mann zu verhökern beliebt, solange er halbwegs glaubwürdig ist und seine Prosa nicht gegen alle Grammatik verstößt, und solange er sich leisten kann, es drucken zu lassen. In diesem Fall ist der Mann ja tatsächlich bei der Exekution zugegen gewesen; das macht ihn glaubwürdig. Seine Prosa mag voller Lügen stecken, aber sie ist in des Königs Englisch verfasst. Sein Geldbeutel hat ihm den Druck erlaubt. Oh, aber ein viertes Element gibt es noch, ohne das die drei anderen nichts wert sind: Die Menschen müssen nach seinem Gefasel lechzen und bereit sein, dafür zu zahlen, dass sie es lesen dürfen.«
Er hatte Recht. Die Spanische Chronik, wie man die Schrift nannte, stillte mancherlei Hunger. Der nach Wahrheit war nicht darunter. »Ihr weigert Euch also, die Schrift zu widerrufen oder irgendwelche Anstalten zu unternehmen, sie zu unterdrücken?«
»Ich habe nicht die Macht dazu«, sagte Chapuys. Eine bequeme Ausrede.
»Ich wünschte, Ihr hättet sie.«
»Ich auch, Euer Gnaden. Die Schrift ist albern, und sie glorifiziert Catherine, macht im Tode mehr aus ihr, als sie im Leben jemals war. Sie war …« Er zögerte, als widerstrebe es ihm, ein Zugeständnis zu machen, derweil aber angeborene Ehrlichkeit ihn dazu zwang. »Sie war eine katholische Galionsfigur, die wohl einige Verlegenheit hervorrufen konnte. Ich fürchte, sie hat dem Katholizismus in England zu einem schlechten Ruf verholfen. Besser hätte man ihn mit der Prinzessin von Aragon ruhen lassen, als ihn durch diesen Morast zu schleifen.«
Ich wusste seine Offenheit zu würdigen. »Nun, die Protestanten hatten die Boleyn.« Ich lachte. »Es ist gefährlich für jede geistliche Körperschaft, sich von einem Menschen vertreten zu lassen.«
Plötzlich lachte er; ja, er krähte regelrecht vor Vergnügen. »Außer natürlich im Falle des Heiligen Vaters.«
»Nein, genau den habe ich ja gemeint!« Jetzt musste auch ich lachen. »Er ist genauso schlecht wie Anne und Catherine auf ihre Weise. Nein, es darf kein Mensch sein!«
»Aber Euer Gnaden – Ihr seid doch jetzt das Oberste Haupt der Kirche von England!«
»Nicht ihr geistliches Vorbild.« Ich erhob mich vom Thron. Die Zuneigung zu Chapuys, meinem alten Gegenspieler, übermannte mich. Er mochte mein Gegenspieler sein, aber er gehörte zu meiner Welt, zu meiner alten, bekannten Welt, und das war plötzlich sehr wichtig für mich. Wir waren nur noch so wenige, und unsere Zahl schrumpfte immer weiter. Ich legte ihm den Arm um die Schultern, die ausgemergelten, schmalen Schultern.
Er war alt. Auch er trug das Zeichen des Fortgangs, weg von mir. Ich sollte allein sein. Furcht schüttelte mich.
»Ihr zittert«, sagte er beinahe zärtlich. Wir waren Feinde, die erst Achtung voreinander gehabt, dann Toleranz gefunden und schließlich Zuneigung zueinander gefasst hatten. Wo waren sie jetzt in meinem Leben, die Prinzessin von Aragon, die Hexe Boleyn, Jane, die Prinzessin von Kleve, die Hure Howard? Aber Chapuys war immer noch da.
»Manchmal, ja«, gab ich zu. »Es scheint, im März kann ich es nie warm genug haben.«
»Nicht einmal im Juli, hier in England!«
»Ihr geht bald in den Ruhestand.« Ich wusste es.
»Ja. Endlich.«
»Die Sonne wird Euch wärmen, wird Euch heilen. Ich weiß es. Ihr habt lange darauf gewartet.«
»Ich habe die Sonne vergessen. In Wahrheit fühle ich mich in England zu Hause. Ich glaubte nur für kurze Zeit herzukommen. Ich wollte meine Zeit abdienen und dann zurückkehren in die Sonne, zu den Blumen und dem Schwarz-Weiß des spanischen Mittags. Aber ich beging den Fehler, mich in die Prinzessin von Aragon zu verlieben.
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