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Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
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entscheidender Bedeutung, dass du begreifst: Er ist dein Feind. Es kann in einem Land nur einen einzigen König geben, und wenn deine Feinde dich zaudernd oder weichherzig sehen, dann wirst du den Weg gehen, den der arme, irre Heinrich VI . gegangen ist. Sie sind skrupellos; du musst es auch sein. Außer dir steht nichts zwischen Frieden und Anarchie. Dein Leben ist das Einzige, was ein neues Chaos in Schach hält. Bewahre dieses Leben. Es ist deine Pflicht als Gottes auserwähltes Werkzeug!«
    »Indem ich ein unschuldiges Leben vernichte?«
    »Er ist nicht unschuldig! Er ist schuldig – ein verdorbener, abscheulicher Verräter!« Er geriet in solche Erregung, dass er sich aufrichtete und mit matter Faust auf das Löwenfell einschlug. »Es kommt nicht darauf an, was du von Finanzen verstehst oder nicht; da kannst du dich auf meine Finanzminister Empson und Dudley verlassen. Und was die Arbeit des Geheimen Rats angeht, so kann Bischof Fox, der Geheimsiegelbewahrer, dir sagen, was du wissen willst, und dir Anleitung geben. Aber was den Schutz des Thrones betrifft, so kannst du auf niemanden zählen außer auf dich selbst.« Er sank zurück, erschöpft von der Anstrengung. »Ein König sein, das heißt, ein unnatürlicher Mensch sein. Du musst hart sein, wenn andere milde sind, und milde, wo andere sich hart zeigen. Und …«
    Ich wartete, aber es kam nichts mehr. Im trüben Licht sah ich, dass er ruhig atmete. Er war eingeschlafen.
    Ich eilte hinaus. Als ich in das taghelle Nachbarzimmer kam, in dem die Luft nicht von Rauch und Parfümwolken stickig war, wurde mir fast schwindelig. Einige Diener warteten hier, gewissermaßen im Vorzimmer der Sterbekammer. Stets stand ein Priester bereit, sollte er benötigt werden; heute war es Thomas Wolsey, der Almosenier des Königs (dessen Namen ich mir angeeignet hatte, um Katharina in den Beichtstuhl zu locken). Er saß still auf einer kleinen Bank am Fenster und las. Als ich vorbeiging, nickte er mir würdevoll zu.
    Ich kehrte in mein eigenes Gemach zurück, immer noch erschüttert von dem, was Vater mir befohlen hatte. Meinen Vetter de la Pole hinrichten … Ich ging zu meinem Arbeitstisch, um mein Schreibzeug hervorzuholen. Ich fand ein Stück Papier, auf dem ich einmal einen lateinischen Brief verfasst hatte. Ich tauchte die Feder in die Tinte und schrieb zum ersten Mal: Heinrich Rex. Meine Hand zitterte, und ich machte einen Klecks. Ich versuchte es noch einmal, und dann noch einmal. Beim dritten Mal war das Zögern verschwunden, und ich kleckste nicht mehr. Heinrich Rex.

    Der Winter ging vorüber; zeitig kündigte sich der Frühling an. Ende März war der Himmel blau, und leuchtend gelbe wilde Blumen blühten an den Ufern der Themse. Aber in der Sterbekammer war kein Frühling; die geschlossenen Vorhänge versperrten ihm resolut den Weg. Als die Apfelbäume im Obstgarten unter den Fenstern erblühten, konnte Vater es nicht sehen oder riechen.
    Als er schwächer wurde, wimmelten immer mehr Bedienstete um ihn her, und wir hatten nicht mehr so oft Gelegenheit zu vertraulichem Gespräch. Vater hatte zu lange gewartet, statt mir beizeiten zu sagen, was er mir hätte sagen müssen. Jetzt waren wir beide im Netz des höfischen Rituals verfangen, das bis in die Sterbekammer hineinreichte und jede Vertraulichkeit zwischen uns wirkungsvoll erstickte. Aber zugleich erwartete man doch, dass ich beständig zugegen sei, von der frühen Morgenstunde an, da Wolsey die Messe zelebrierte, bis zum Abend, da die Kammerdiener den König mit einer ausgeklügelten Folge von Maßnahmen für die Nachtruhe vorbereiteten (sie wälzten sich zum Beispiel auf der Matratze, um verborgene Messer ausfindig zu machen, und besprengten die Decken mit Weihwasser) und schließlich verstohlen den täglichen Haufen der blutgetränkten Leintücher entfernten. Am Ende kam Wolsey herein, um das Nachtgebet zu sprechen, und dann war mein Tag vorüber.
    Eines Nachts konnte ich ihn erst nach Mitternacht verlassen; er litt Schmerzen und konnte nicht schlafen, bis sein Arzt ihm einen Mohnsirup verabreichte, der ihm Linderung verschaffte. Statt mich nun in meine Kammer zurückzuziehen, fühlte ich ein starkes Bedürfnis nach kühler frischer Luft. So stieg ich die kleine Treppe zu der Pforte hinunter, die nach draußen führte, und gelangte in den Obstgarten des Schlosses. Die Bäume standen in voller Blüte, und ein aufgequollener Mond – es war beinahe Vollmond – überstrahlte sie. Sie sahen aus wie geisterhafte

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