Ich, Heinrich VIII.
nicht. Stattdessen fiel er neben mir auf die Knie.
»Hoheit«, sagte er.
Ich schaute mich um. Niemand sah Vater an; alle hatten sich mir zugewandt. Wolsey hatte es bemerkt, ich aber war blind gewesen.
»Der König ist tot.« Linacre kam mir langsam entgegen. Ich sah Vater reglos auf seinen Kissen liegen. Der Mund stand ihm offen.
»Lang lebe der König!«, rief jemand aus dem hinteren Teil des Gemachs in obszöner Lautstärke. Dann riss ein anderer die geschlossenen Samtvorhänge auseinander und öffnete die Fenster. Sonne und Wind fluteten herein und zerstreuten die Qualmwolken in der Krankenstube.
»Lang lebe der König!« Andere nahmen den Ruf auf, und bald hallte die Kammer davon wider, während Vater vergessen dalag und nichts mehr hörte.
Meine Schwester Maria kam zu mir. Ich streckte die Hand nach ihr aus und wollte ihr den Arm um die Schultern legen; wir waren nun Waisen, und ich wollte diesen seltsamen Schmerz mit ihr teilen. Aber auch sie fiel in Demut vor mir auf die Knie.
»Hoheit«, sagte sie, und sie ergriff meine Hand und küsste sie.
»Maria! Du darfst nicht …«
»Ihr seid mein König, und ich schulde Euch meinen ganzen Gehorsam.« Sie wandte ihr glänzendes junges Gesicht zu mir auf.
Zitternd entzog ich ihr meine Hand. Ich drängte mich an Wolsey vorbei und strebte verwirrt einer fast unbekannten Tür im Vorraum zu, die geradewegs in den Obstgarten hinausführte, in dem ich noch wenige Nächte zuvor gestanden hatte. Dort wollte ich hin, als gäbe es dort irgendeinen magischen Trost für mich.
Ich drückte die schwere, mit Nägeln beschlagene Tür auf und trat hinaus, geblendet vom grellen Aprilgrün. Die Bäume standen in voller Blüte, und die zarten Blütenblätter saßen jetzt schon lose; der Wind trieb sie vor sich her und überschüttete mich mit ihnen. Und sofort stand mir alles klar, scharf und fern vor Augen, als schaute ich durch ein Prisma. Aus weiter Ferne hörte ich den Herold am Schlosstor, wie er mich ausrief: »Heinrich VIII ., durch Gottes Gnade König von England und Frankreich und Lord von Irland.« Seine Stimme schwebte in der blütenduftenden Luft wie ein körperloser Geist.
Nach einer Weile aber verging dieses Gefühl der Entrückung, und ich stand in einem Palastgarten, den ich seit meiner Kindheit kannte. Der Obstgarten selbst hatte nichts auch nur annähernd Übernatürliches an sich, aber dass an diesem Nachmittag Magie zugegen war, lässt sich nicht bestreiten: Es ist immer ein Element der Magie im Spiel, wenn ein König gemacht wird.
XII
I ch stand lange so da und genoss die Illusion von Einsamkeit, bis Stimmen in meine Gedanken einbrachen – die Stimmen einer großen Schar von Arbeitern und Bediensteten, die auf den Obstgarten zuströmten und mich einkesselten.
Schmerzlich überrascht drehte ich mich um, und ein Ruf erhob sich: »Lang lebe der König!« Ein großer, rotgesichtiger Gärtner war es, der diese Worte rief. Er hob die Hände. »Lang lebe König Harry!«
Ich zuckte innerlich zusammen ob dieser Vertraulichkeit. Sahen sie in mir denn immer noch nur den kleinen Harry? Darin lag nichts Majestätisches, nichts Furcht erregendes. Ein Spielball …
»Hübscher Hal!«, rief ein altes Weib. Wieder erschauerte ich, und ich musste daran denken, was eine andere Frau von Edwards hübschem Antlitz gesagt hatte.
Sie sollten verschwinden, sie sollten aufhören, mich zu verspotten. Ich ging ihnen entgegen, aber ich wollte nur an ihnen vorbei und zurück in den Palast schlüpfen. Wie hatten sie mich so rasch gefunden?
Als ich näher kam, brachen sie in wilden Jubel aus. Und dann veränderte sich etwas in mir: Ich fürchtete sie nicht, sondern streckte ihnen die Hände entgegen. Eine Stimme, die nicht mir gehörte (wenngleich sie aus meinem Munde kam), sagte: »Ich danke euch. Ich habe nur einen Wunsch: Solange ich König bin, möget ihr immer so glücklich sein, wie ihr es heute seid.« Die Worte sprudelten ungerufen aus mir hervor. »Wein!«, rief ich, ohne jemanden anzusprechen; irgendwie wusste ich, dass der Befehl schon ausgeführt werden würde. »Wein für alle!«
Dies veranlasste sie zu neuerlichem Jubel und lenkte sie ab, sodass ich mich in den Palast zurückziehen konnte. Dankbar schloss ich die Tür hinter mir. Noch immer konnte ich draußen ihre Jubelrufe hören.
Aber auf der anderen Seite der Tür wartete schon wieder eine Menschenmenge – Pagen, Speisenaufträger und Bratspießdreher diesmal. Augenblicklich sanken sie auf die Knie, gelobten
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