Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
Toilette. Sie spülte sich den Mund am Waschbecken aus und zuckte zusammen, als sie den leeren Blick in ihren Augen sah. Bleib auf den Beinen, Mädchen, hörte sie ihren Vater sagen. Das wollte sie, das tat sie auch, doch als sie die Treppe wieder hinunterging, drohten ihr die Knie einzuknicken. Ihr Körper sehnte sich nach Entspannung, sie hätte sich am liebsten auf den Teppich fallen lassen und sich vor allem verschlossen.
Sie stand am Fuß der Treppe und hielt sich am Geländer fest. Auf der anderen Seite des Raumes sah sie den Stuhl, von dem Cameron heute Morgen gehüpft war. Seine Socken lagen auf dem Couchtisch, seine Hausschuhe standen an der Hintertür. Hier würde sie nie auf die Beine kommen. Wenn sie hierblieb – alleine, ohne Cameron –, würde sie durchdrehen. Und vielleicht nie wieder auf die Beine kommen.
Sie stieg in ihr Auto und fuhr los.
36
Es regnete in Strömen. Die Tropfen prasselten nur so herab. Sie klatschten auf das Autodach, die Scheibenwischer fegten hin und her, die Reifen wirbelten das Wasser aus den überfließenden Gullys hoch.
Liv fuhr ziellos in der Gegend herum, folgte wahllos dunklen, nassen Straßen im Zickzack und versuchte nicht zusammenzuklappen. Beim Fußballfeld bremste sie ab. Daniel hatte gesagt, er wohne auf der anderen Seite des Spielfeldes. In der Watson Street.
Sie durchkämmte zuerst Barton, dann Menzies und Curtin, lauter Straßen mit Namen ehemaliger Premierminister. Sie fand die Watson Street, eine Abzweigung der Holt, und hoffte, der Name des Vorsitzenden der Liberalen Partei, der im Meer ertrunken war, erwiese sich nicht als schlechtes Omen. Sie erinnerte sich nicht an Daniels Hausnummer, aber das machte nichts. Sein Vierradantrieb stand vor einem Carport etwas weiter vorne.
Liv ging auf das Holzhaus zu, ohne auf den Regen zu achten. Sie war ohnehin schon von Kopf bis Fuß durchnässt – es spielte also keine Rolle mehr. Spielte überhaupt noch irgendetwas eine Rolle? Als sie den schmalen Weg betrat, der sich durch den Vorgarten zur Haustür schlängelte, sprang ein Bewegungsmelder an und beleuchtete den Regen. Sie blieb zwei Schritte von der Eingangstür auf der Veranda stehen und beäugte das altmodische grüne Glas in der Türmitte. Was zum Teufel tue ich hier?
Doch noch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, erschien hinter dem Glas ein Schatten, und gleich darauf stand Daniel in der Tür. Er sagte nichts, sein Blick glitt von der Pfütze zu ihren Füßen zum Schlüssel, den sie in der Hand hielt, ihrem Wagen auf der Straße und all dem, was er in ihrem Gesicht las. Dann machte er die Tür weit auf. »Kommen Sie rein.«
Wenn ich nicht reingehe, fahre ich die ganze Nacht ziellos durch die Straßen, dachte sie. Als sie eintrat, machte er das Licht im Flur an und folgte ihr über den alten Holzfußboden den Gang entlang in einen großen Raum im hinteren Teil des Holzhäuschens. Dort standen Sofas und ein Tisch, es gab eine Küche, der Regen prasselte auf das dünne Dach, ein Fernseher brummte leise vor sich hin, doch sie achtete nur auf die vier Fenster mit offenen Vorhängen. Sie ging an den Möbeln vorbei und zog die Vorhänge zu.
»Was ist los?«, fragte Daniel.
Sie ging zum nächsten Fenster und zog den schweren Stoff vor das Fenster.
»Liv?«
Er stand in der Mitte des Raumes und beobachtete sie, während sie wortlos zum nächsten Fenster lief und einen flüchtigen Blick auf den eingezäunten Hintergarten warf, bevor sie auch diesen Vorhang zuzog.
»Livia, wo ist Cameron?«
Sie zog den letzten Vorhang zu, ballte die Fäuste, biss die Zähne zusammen und stöhnte. Sie hörte seine Schritte auf dem Holzboden, als er zu ihr herüberkam. Sie wollte nicht, dass er sie berührte, wusste, dass jede zärtliche Geste sie in die Knie zwingen würde. Als er sich ihr näherte, ging sie vom Fenster weg und wich seinem Blick aus.
»Wo ist Cameron?«, fragte er wieder. Er kam nicht näher und behielt seine Hände, wo sie waren.
»Bei seinem Vater. Ich habe ihn bei Thomas’ Geliebter abgeliefert, weil mein Stalker ihm eine verdammte Geburtstagskarte überreicht hat. Er hat sie ihm in meiner Anwesenheit in die Hand gedrückt. Ich stand quasi daneben und habe es nicht bemerkt. Ich bin seine Mutter und habe ihn nicht beschützt. Er ist alles, was ich habe, und ich musste ihn ihr überlassen.«
Ein Schluchzer ließ ihren Körper erzittern. Er drängte mit solcher Wucht aus ihr heraus, dass sie das Gleichgewicht verlor und Daniel sie am Ellenbogen
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