Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
gefunden habe.«
Livs Körper erstarrte. Sie war in seinem Bett, lebendiger als sie sich seit einem Jahr je gefühlt hatte, und er träumte von ihr als einer Toten.
»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich noch einmal. »Ich hätte dir das nicht erzählen sollen.«
»Nein, es ist schon in Ordnung«, sagte sie zu ihm, aber sie war sich nicht sicher. Sie hatte in der Zeitung Geschichten von Soldaten oder Rettungskräften und Gewaltopfern und vom posttraumatischen Belastungssyndrom gelesen. Menschen, die Schreckliches gesehen, die furchtbare Ereignisse überlebt hatten. Sie hatte sich die letzte Woche gefragt, ob auch ihre Albträume etwas damit zu tun hatten, eine Verbindung zu Daniel lag auf der Hand. Er hatte von der Angstbewältigung jener Menschen gesprochen, die sich in Gefahr begeben müssen. Er musste unvorstellbare Dinge gesehen haben. Er hatte den Dienst bei der Feuerwehr quittiert, weil er glaubte, nicht genug Menschenleben zu retten – seine Nächte waren gefüllt mit Misserfolgen, er träumte davon, nicht mehr rechtzeitig vor Ort zu sein, um Menschenleben retten zu können.
Sie wollte ihm gerne sagen, dass … was? Dass er bei ihr nicht zu spät gekommen war. Dass sie letzte Woche ohne ihn nicht überlebt hätte. Das würde ihm aber nicht helfen. Sie war keine Psychologin – vermutlich brauchte sie selbst eine, wenn das alles hier vorbei war –, doch diese Albträume hatten nicht erst letzte Woche begonnen, als er sie gefunden hatte. Sie nahm an, dass der Vorfall nur eine neue Angst losgetreten hatte. Sie wusste, dass Genesung Zeit brauchte, dass es nicht dasselbe war, ob man gesagt bekam, dass es einem besser ginge oder ob man es selbst spürte. Und dass man sich mit Mitleid nur erbärmlicher fühlte.
»Kennst du die Leute in deinen Träumen?«, fragte sie.
»Ja.«
»Das muss schlimm sein.«
»Es ist nicht, wie du denkst.«
Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. »Wie meinst du das?«
Er löste seine Hände und fuhr damit vorne an den Beinen herab. »Die Leute in meinen Träumen sind alle tot.«
»In den Träumen.«
»Nein. Sie sind alle tot.« Er stand schnell auf und sprach kalt weiter. »Sie sind auch im echten Leben tot.«
Das gedämpfte Licht, das durch das Fenster fiel, war heller geworden und löste ein wenig die Schatten im Raum. Während sie sich seinen breiten Rücken ansah, die Furche in der Mitte, an der Stelle, an der sich die Muskeln zur Wirbelsäule wölbten, spürte sie ein Unbehagen in der Magengrube. Sie war sich nicht sicher, ob sie tatsächlich wissen wollte, was das über ihn aussagte, trotzdem fragte sie nach: »Wie meinst du das? Wer sind diese ›sie‹?«
»Meine Liste der Toten.«
Liv stand auf und zog den Morgenmantel enger. Sie hatte keine Ahnung, wohin diese Unterhaltung führen würde, aber im Stehen hatte sie das Gefühl, besser für die nächste Frage gewappnet zu sein. »Daniel, wovon redest du da?«
Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Vor und zurück, als wollte er etwas wegrubbeln. »Das sind alles Leute, die ich nicht retten konnte, die mir anvertraut waren und in meiner Obhut starben.«
»Du hast eine Liste angelegt?«
»Nein. So ist das nicht. Ich habe sie nicht auf einem verdammten Blatt Papier gelistet.« Ärger lag in seiner Stimme. Unruhe und Ungeduld. Doch er sprach weiter. »In meinem Kopf. Die Gesichter. Die Namen. Ich kannte immer ihre Namen. Vielleicht hießen sie auch anders … Ich hab mir manchmal Namen für sie ausgedacht, wenn ich sie sah. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.« Er ging wieder zum Fenster, stand mit dem Rücken zum Rollladen, sein Körper zeichnete sich schemenhaft in der Dämmerung ab. Er atmete tief und heftig durch die Nase ein, als habe er seit Stunden keine Luft mehr bekommen.
»Ich bin nicht tot«, sagte Liv.
»Nein. Ich weiß nicht, warum du in den Träumen bist. Das sollte nicht sein. Ich wünschte, es wäre anders. Du solltest gar nichts darüber wissen.«
Vielleicht hatte sie es nur schlimmer gemacht, weil sie gestern Abend vorbeigekommen war. Was hatte es bei ihm ausgelöst, aufzuwachen und sie zu sehen?
Plötzlich griff er nach dem letzten Kleidungsstück auf dem Stuhl in der Ecke, zog sich das T-Shirt über den Kopf und Joggingschuhe an.
»Nein, warte. Ich sollte gehen«, sagte sie. »Ich glaube, ich habe alles nur schlimmer gemacht, weil ich hergekommen bin.«
»Das ist nicht deine Schuld, Liv. Ich muss es weglaufen.«
»Es ist noch nicht mal hell draußen.«
»Es dauert aber
Weitere Kostenlose Bücher