Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
tänzelte in der Nähe des Wagens, der jetzt zwischen ihr und Daniel war, hinter ihr herrschte Dunkelheit. »Bleib mir vom Leib.«
Doch das kümmerte ihn nicht. Er redete weiter und kam auf sie zu. »Liv, komm schon. Sei doch nicht so. Es ist nicht, wie du denkst.«
Sie hatte zwei Möglichkeiten. Entweder sie zog sich weiter in die Dunkelheit zurück, oder sie griff ihn an. Sie stellte ihren linken Fuß fest auf den Boden, hob ihren rechten und trat fest zu. Nichts setzt jemanden schneller außer Gefecht als ein Tritt mit dem Absatz gegen das Knie . Das hatte er gesagt. Und er hatte recht gehabt.
Sie spürte, wie die Knochen unter ihrem Schuh knirschten und hörte ihn vor Schmerz aufjaulen. Er krümmte sich und ging zu Boden, knallte mit der Schulter gegen die Fahrertür und schlug auf dem Boden auf. Niederschlagen und wegrennen . Den Rat hätte sie sich auch zu Herzen nehmen sollen, doch das konnte sie nicht, sie musste es zu Ende bringen.
Sie beugte sich über ihn. »Ich habe keine Angst. Ich habe dich verdammt noch mal satt. Lass mich in Ruhe! Und halte dich von den Menschen fern, die ich liebe!«
Eine Hand versuchte ihren Knöchel zu greifen.
Sie lief los, weg von ihm, das Herz schlug ihr bis zum Hals, sie keuchte.
»Liv.«
Das war nicht Daniel. Die Stimme kam aus der entgegengesetzten Richtung. Sie wandte den Kopf, da trat Ray aus dem Schatten hinter dem anderen Wagen hervor.
»Ray, Gott sei Dank.«
»Kann ich dir helfen?«
Sie zeigte auf Daniel. »Daniel. Es ist Daniel Beck. Er … Er hat …« Ihr Mund war wie ausgetrocknet. Sie schluckte und versuchte es erneut. »Ich muss die Polizei anrufen. Hast du ein Telefon?« Sie wollte nicht mehr alleine zu ihrem Auto zurückgehen.
Er klopfte auf seine Tasche. »Nein, nicht dabei. Das liegt auf meinem Putzwägelchen. Ich bin nur kurz rausgekommen, um etwas frische Luft zu schnappen. Ich putze heute Abend die Praxis des Kieferorthopäden. Das mache ich mittwochs immer.«
Es war ihr scheißegal, welches Büro er saubermachte. Daniel versuchte sich auf die Seite zu rollen. Ihre Schlüssel lagen im Auto. Die Schlüssel zu ihrem Haus. »Ist der Eingang offen? Ich muss die Polizei verständigen.«
»Ich habe den Notausgang offen gelassen. Braucht Daniel Hilfe?«
»Nein. Ich brauche welche. Bleib bei ihm. Pass auf, dass er nicht verschwindet. In meinem Kofferraum liegt ein Schirm. Wenn er abhauen will, zieh ihm damit eins über. Er ist das Arschloch, das mich stalkt.«
Sie lief auf die Fahrbahn und hoffte, Ray wäre bestürzt genug über die Gewalt in seinem Revier, um seinen Job ordentlich zu machen. Es dauerte ja nicht lange. Daniel bewegte sich ein wenig, würde aber vorläufig keinen schnellen Abgang machen.
Der Notausgang war mit einer Stehleiter festgekeilt. Sie riss die Tür auf, blinzelte im plötzlich hellen Licht und lief zum Flur. Alle Büros waren dunkel, sie entdeckte Rays Putzwägelchen im Empfang des Kieferorthopäden. Sie versuchte die Tür zu öffnen. Sie war zugesperrt. Mist.
Genau wie die nächste Tür und die dahinter. Sie lief auf die andere Seite zurück, als plötzlich die Tür zum Notausgang aufschwang und Ray dastand.
»Ich habe keinen Schlüssel«, sagte sie, als sie vor ihrem Büro stand.
»Nein.«
Sie zögerte. Irgendwas stimmte nicht. »Wo ist Daniel?«
Er presste die Hände wie zum Gebet zusammen. »Es ist alles in Ordnung, Liv. Ich habe mich um ihn gekümmert.«
Sie hatte weder Zeit noch Geduld für seine Betulichkeit, hoffte allerdings, dass er das Schwein mit irgendeinem Seil gefesselt hatte. »Hast du einen Schlüssel?«, zischte sie.
Er nahm die Standleiter aus dem Notausgang und stellte sie in den Flur. Er handelte wohlüberlegt und sehr bewusst. Sie hätte ihn am liebsten angeschrien und ihm gesagt, er solle sich verdammt noch mal beeilen. Was sollte das alles überhaupt? Typisch Ray. Er konnte gar nicht anders. Er wartete, bis sich die hydraulisch betätigte Tür langsam geschlossen hatte, und drehte sich dann zu ihr um. Sie biss ungeduldig die Zähne zusammen und wartete auf seine Antwort.
»Liv, hast du jetzt Angst?«
42
Liv erstarrte.
Das Schloss des Notausgangs schnappte ein. Ein Klicken im stillen Flur.
War es wirklich Ray ?
Der freundliche, oft linkische Ray.
»Ich sehe es ja selbst, dass du Angst hast. Endlich.« Er stand an der Tür, die Hände auf dem Werkzeuggürtel, und lächelte, als erwarte er, dass sie ihm sagte: »Gut gemacht.«
»Großer Gott.« Furcht breitete sich in ihrer Brust aus.
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