Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
Waren es am Ende Ray und Daniel gemeinsam? Oder Ray alleine? Sie entfernte sich von der Tür und stützte sich mit der Hand an der Wand ab.
»Ich wusste, dass du kommen würdest, sobald dir der Ernst der Lage klar geworden wäre.« Er sagte das, als wollte er sie loben.
Hatte er das im Sinn gehabt? Wollte er, dass sie herkam? Aber warum zum Teufel? Sie war jeden Tag hier. Nein, Moment mal. Er wollte, dass sie Angst hatte. Vielleicht reichte es ihm, wenn sie ihm das zeigte. Er bekäme, was er wollte, und sie konnten weitermachen. Es war wirklich Ray. Und der gab sich stets mit einem klaren Ja oder Nein zufrieden. »Ja, ich habe Angst. Ehrlich gesagt, mehr als das. Könntest du mich in mein Büro lassen?«
»Nein.«
»Ich habe meinen Schlüssel im Auto gelassen. Ich muss rein.«
»Nein.«
»Aber Daniel …«
»Unser Mr. Beck ist kein Problem.«
Livs Mund wurde trocken. Meinte er damit, Daniel wäre kein Problem, weil er und Ray gemeinsame Sache machten? Oder … oder … Sie hatte Daniel gegen sein Knie getreten und ihn schmerzverzerrt am Boden liegen lassen. Ihn Ray überlassen. »Wo ist Daniel?«
Ray drückte den Hebel des Notausgangs hinunter und presste sich mit der Schulter dagegen. Die Tür bewegte sich nicht, machte keinerlei Geräusch – sie war fest verschlossen. Er lächelte zufrieden. »Wo du ihn gelassen hast. Ich habe nur dafür gesorgt, dass er nicht stört.«
O Gott. »Was hast du getan?«
»Ich musste nicht viel tun. Das meiste hast du schon erledigt. Ich verstehe jetzt, warum du die Gefahr immer heruntergespielt hast. Du bist ziemlich tough.«
Sie drückte den Rücken an die Wand. War Daniel tot? Hatte Ray ihn umgebracht? In seinem Gürtel steckte ein großer Schraubenschlüssel. Damit konnte man jemandem den Schädel zertrümmern. Beruhige dich, Liv. Das war doch nur Ray. Der freundliche, sich ewig anbiedernde Ray. Würde er das Putzen unterbrechen, um jemandem den Schädel einzuschlagen?
Verdammt. Daniel war der Einzige, der wusste, dass sie hier war.
Sie warf einen Blick zum Haupteingang und sah die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos. Die Tür war aus Glas. Sie könnte es zertrümmern, Krach machen. Weglaufen.
»Oh, lass es, Livia. Das ist Sicherheitsglas, wie man es auch in Gefängnissen verwendet.«
Er ging durch den Flur zu Anthonys Büro und redete weiter, während er kontrollierte, ob es verschlossen war. »Ich habe den Vermieter dazu gebracht, es nach dem Einbruch letzte Woche auszuwechseln. Das war zwar nicht der Zweck der ganzen Arbeit, aber jetzt kommt es mir zugute.«
Der Zweck seiner Arbeit? Ihr Büro war zerstört worden, und sie hatte gedacht, es wäre eine brutale, willkürliche Tat gewesen, während er davon redete wie von einem neuen Wandanstrich. Irgendwie passten seine Worte nicht mit den Handlungen zusammen. Vielleicht hatte sie es falsch verstanden. Vielleicht war nichts so, wie sie dachte. »Hast du auch mein Büro verwüstet?«
Er blieb vor der Praxis des Kieferorthopäden stehen und legte seinen Kopf schief, als habe er sie ertappt. »Du bist wirklich eine schlechte Schauspielerin, Livia. Obwohl du mit der Polizei heute Morgen eine beeindruckende Show abgezogen hast. Ich dachte schon, sie würden dich ebenso durchschauen wie ich. Darum bin ich in der Nähe geblieben, nur für alle Fälle.« Sie wich weiter den Flur zurück und hielt Abstand, während er in Schlangenlinien von Büro zu Büro lief. »Aber sie sind blöd wie immer. Sie werden es niemals rausfinden.«
Hatte er so etwas schon mal gemacht? Sie lief rückwärts an der letzten Tür vorbei und blieb zwischen ihr und dem Eingang stehen. Was hatte er zuvor schon mal getan? Drohbriefe geschrieben? Eigentum zerstört, Menschen verletzt? Jemanden in einem Gebäude gefangen gehalten? Er stand jetzt mitten im Flur, hatte die Hände wieder am Werkzeuggürtel und sah sie an. Sie käme nicht an ihm vorbei – und selbst wenn, der Notausgang war versperrt. Sie blickte zum Eingang. Das war eine Sackgasse, aber die einzige Möglichkeit.
Sie spürte die kalte Scheibe an ihren Schultern, als er sich ihr näherte. Sie drehte den Kopf und spähte auf die Straße.
»Durch das getönte Glas sieht uns niemand.« Seine Stimme klang plötzlich sehr nah und vertraut. Sie wandte sich um, er stand fast unmittelbar vor ihr.
Der Geruch von herbem Aftershave und schlechtem Atem stieg ihr in die Nase. Er schien sie damit ersticken zu wollen, doch bisher hatte er sie nicht berührt. Er stand nur da mit stolzgeschwelltet
Weitere Kostenlose Bücher