Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
musste, okay? Du weißt ja, dass man Leute nicht einfach verprügelt, oder?«
»Ja-ha, Mom.«
»Du musst dir die Nachrichten nicht unbedingt anschauen, ich habe dir ja davon erzählt. Ich wollte nur, dass du es erfährst, falls die Kinder in der Schule irgendwas darüber sagen.«
»Ich will es mir aber anschauen.«
Sie sah auf die Uhr am Küchenherd. Die Nachrichten kamen in ein paar Minuten. »Solltest du nicht in die Badewanne gehen?«
»Ach, Mom.«
Liv lächelte. Er war genau wie alle anderen Kinder, beschwerte sich bitterlich über das drohende Bad und kam erst wieder raus, wenn das Wasser schon eiskalt war. Wenn er fertig war, wären die Nachrichten vorbei. »Du machst die Couch beim Fernsehschauen ganz dreckig, das ist nicht fair, oder?« Sie hasste es, Thomas’ Geliebte zu unterstützen, doch heute Abend kam ihr das gerade recht.
Während sie seinem Gemurre zuhörte, sah sie hinter dem Gartenzaun einen Scheinwerfer aufleuchten. Der Garten fiel in ein dämmriges Licht, das von langen, dunklen Schatten durchbrochen wurde. Ein Hund bellte nervös. Liv zog den Vorhang weiter zurück und spähte hinaus.
»Musst du heute Abend noch Hausaufgaben machen?«, fragte sie, um Cameron vom Thema abzulenken. Während er ihr von einem Test zum Siebenereinmaleins erzählte, ging jemand durch den Lichtkegel des Scheinwerfers auf der anderen Seite des Zaunes, wobei ein langer, unheimlicher Schatten über Livs Garten wanderte. Sie trat einen Schritt von der Scheibe zurück und sah noch mal hin. »Und, was ist sechs mal sieben?«
Während er überlegte, kontrollierte sie den Türgriff. Er war geschlossen, saß aber locker. Genau wie die Eingangstür.
»Zweiundvierzig.«
»Gut. Acht mal sieben?« Sie schob die Tür zu und klappte den Riegel rauf und runter. Er war immer noch locker.
»Vierundfünfzig.«
»Bist du sicher?«
»Hmm …«
Sie gab der Tür einen Stoß. Sie sprang auf, und Liv schnaufte, als ein kalter Windstoß über ihr Gesicht fuhr.
»Was ist?«, fragte Cameron.
Sie knallte die Tür zu, drückte den Riegel herunter und zog den Vorhang zu. »Nichts. Ich … äh, ich finde, du solltest noch ein wenig mehr Mathe üben. Mach das doch in der Badewanne. Draußen wird es kalt, du solltest langsam wieder reingehen.« Sie hatte keine Ahnung, wie Thomas’ Garten aussah, aber sie wollte nicht, dass er jetzt noch draußen war. So ganz alleine in der Dunkelheit.
»Okay.«
»Sollte dich jemand fragen, sagst du, dass es mir gut geht. Ich habe nur eine Prellung. Montag zeige ich sie dir.«
»Okay.«
»Bis morgen, Cam, ich hab dich lieb.«
»Hab dich auch lieb, Mom. Bis bald.«
Liv legte den Hörer auf und blickte misstrauisch zum hinteren Fenster. Das Leintuch reichte nicht bis zum Boden. Im Spiegelbild der Glasscheibe sah sie ihre Unterschenkel. In ihrem Kopf hörte sie wieder die heisere Stimme und fühlte sich plötzlich wie auf dem Präsentierteller.
10
Liv ging rückwärts durch den Raum, sie hatte Angst. Warum war ihr das mit den Türen vorher nie aufgefallen? Weil auch die vorherigen Bewohner damit gelebt hatten. Weil es ein gutes Viertel war.
Bis letzte Nacht hatte sie Jamestown für einen sicheren Ort gehalten. Kein Polizist hatte ihr gesagt, sie müsse Sicherheitsvorkehrungen treffen. Noch nie hatte ihr ein gewalttätiger Mann ins Ohr geflüstert. Oder einen gehässigen Zettel an ihren Wagen geklebt.
Sie sah sich um. Über der Spüle in der Küche war ein Fenster, das musste sie auch kontrollieren. Doch zuerst waren die Türen dran.
Sie ging in die Waschküche, holte einen Besen, schraubte den Besenkopf ab und steckte den Stiel in die Schiene der Glasschiebetüre. Als sie die Tür zu öffnen versuchte, bewegte sie sich nur ein paar Zentimeter. Nicht weit genug, um auch nur ein Kind hindurchzulassen. Aber du machst dir auch nicht wegen eines Kindes Gedanken, nicht wahr, Liv? Die Türen waren aus Glas, und Glas konnte man zertrümmern.
Sie schob den Riegel an der Eingangstür vor und zurück. Soweit sie es beurteilen konnte, funktionierte er, allerdings blieb zwischen Tür und Türpfosten ein Spalt. Sie rüttelte am Griff, es fühlte sich dennoch solide an.
Sie trat einen Schritt zurück, begutachtete die Tür und dachte an einen kräftigen Tritt mit einem Schuhabsatz und ob es wohl schwer war, die Tür aus den Angeln zu heben.
»Die Tochter unseres ehemaligen Schwergewichtsmeisters im Boxen, Tony ›The Wall‹ Wallace, zeigte etwas vom Kampfgeist ihres Vaters, als sie gestern Abend in einem
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