Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
Parkhaus einen Angreifer in die Flucht schlug.«
Liv erkannte ihr Gesicht im Fernsehen kaum wieder. Sie hoffte, dass Cameron nicht zusah. Sie hatte ihren Vater nie mit einer Verletzung aus einem Kampf kommen gesehen, denn sie war ein Jahr alt gewesen, als er seinen letzten Kampf bestritten hatte – außerdem waren seine Gegner nie nah genug an ihn herangekommen, um Spuren in seinem Gesicht zu hinterlassen. Es war nett von Sheridan, ihn einen ehemaligen Boxchampion zu nennen. Wenn sein Name fiel, dachten die Leute normalerweise nur an den verpassten Weltmeistertitel.
Liv kuschelte sich in eine Sofaecke. Sie hatte sich zum Abendessen Käse und Cracker geholt und verfolgte den Bericht. Sheridan nannte die Krankheit ihres Vaters nicht beim Namen, sprach aber von einer zusätzlichen schweren Belastung für Liv. Rachel Quest wurde auch interviewt, sie mahnte die Frauen zur Vorsicht und bat eventuelle Zeugen, sich bei der Verbrechensbekämpfung zu melden. Daniel Beck wurde nicht gezeigt. Die Geschichte endete mit einem persönlichen Erfahrungsbericht. »Nein, Angst hatte ich nicht. Ich habe zurückgeschlagen und geschrien. Das hat mich gerettet.«
Ob der Dreckskerl auch die Nachrichten sah? Sie hoffte, er würde es sich in Zukunft zweimal überlegen, bevor er sich wieder in einem Parkhaus versteckte. Und sie hoffte, dass die nächste Frau, die ihm in der Dunkelheit über den Weg lief, jetzt genau zugehört hatte.
Es war bereits nach neun Uhr, als sie endlich von Kelly hörte. Sie bekam nur eine kurze SMS : J hat mir von dem Zettel erzählt. Alles in Ordnung? Möchtest du herkommen?
Eine verlockende Einladung, vor allem jetzt, wo Liv wusste, wie sie aussah, doch der Gedanke, in die Nacht hinaus zu eilen, war nicht gerade einladend. Jedenfalls nicht vierundzwanzig Stunden nach einem Überfall im Dunkeln.
Nein. Alles klar hier. Tut mir leid wegen dem Meeting. Wie war’s?
Zu spät zum Erzählen. Erzähl es dir morgen. Schlaf gut. X
Sie hatte auf einen Anruf von Kelly gehofft, dann hätte sie wenigstens den Tonfall in ihrer Stimme gehört. War »zu spät zum Erzählen« eine gute oder eher eine schlechte Nachricht?
Liv zuckte aus dem Schlaf und schlug nach der Hand, die im Traum nach ihr griff. Das Licht der frühen Morgendämmerung, das durch das Leintuch vor dem Schlafzimmerfenster fiel, ließ sie vor Schmerz zusammenzucken. Sie rollte sich zur Seite, setzte sich an den Bettrand und hatte das Gefühl, als lasteten Tonnen Gewicht auf ihren Schultern.
Sie hatte alles versucht, um ihre Gedanken zu beruhigen, hatte Umzugskartons vor die Haustür und die Tür zur Garage gestellt, ihr Schlafzimmer mit einem Nachttisch verbarrikadiert und es trotzdem nicht geschafft, ihre nervöse Übererregbarkeit zu dämpfen, die sie auf jedes Geräusch im Haus horchen ließ. Das Knacken des Holzes an den Wänden, das nächtliche Summen des Kühlschranks, ein Ruf auf der Straße, das unaufhörliche, wütende Bellen des Hundes von nebenan, das sich vom sonstigen süßen Gekläffe zur Abendessenszeit unterschied. Sobald sie vor Erschöpfung kurz einnickte, verfolgten sie im Traum die Bilder aus dem Parkhaus – die Bewegung in der Fensterscheibe, die Hand auf ihrem Mund und der Mann, der sich auf sie stürzt, Daniel Beck, der zu Hilfe eilt.
Sie klopfte leicht auf die Schwellung in ihrem Gesicht – sie war immer noch groß –, sah Kellys Handy und bemerkte, dass das Display erloschen und die Batterie leer war. Na toll. Sie hatte sich keinen Festnetzanschluss ins Haus legen lassen, weil sie mit ihrem Mobilfunkvertrag günstiger wegkam. Doch das war kein Vorteil, wenn jemand versuchte, bei einem einzubrechen, und man niemanden anrufen konnte.
Auch Kellys letzte Nachricht hatte dafür gesorgt, dass Liv schlecht geschlafen hatte. Liv kannte die Geschäftszahlen, sie hätte nur gerne gewusst, wie Neil sie beurteilt hatte.
Du wirst nicht pleitegehen, versuchte sie sich einzureden. Jedenfalls nicht heute. Auch Prescott and Weeks waren noch auf den Beinen. Sie erhob sich und murmelte: »Noch immer gesund und munter, Jungs.«
Sie zog den Pyjama aus, stellte die Dusche an und warf einen prüfenden Blick auf ihre Verletzungen, während das Wasser warm wurde. Ihr Gesicht sah noch schlimmer aus, falls so etwas überhaupt möglich war. Cam würde der blaue Fleck an ihrer Hüfte beeindrucken. Und die Fingerabdrücke an der Innenseite ihres Armes.
Als Liv zum Polizeirevier kam, war Rachel Quest nicht in ihrem Büro. Sie übergab den Zettel einem
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