Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
habe sie soeben die Welt gerettet.
»Könntest du sie wieder rausholen?«
»Na ja, ich … habe sie draußen in den großen Container geworfen. Der wird heute geleert.«
Liv sah nach draußen zu den Tonnen am Straßenrand. »Wann kommt der Müllwagen?«
»Heute Morgen, glaube ich, aaaber …«
Liv hob die Augenbrauen. »Aber was?«
»Aber die vom Reisebüro haben direkt nach mir einen Stapel Kartons und geschredderte Unterlagen hineingeworfen. Einen ganzen Haufen davon.«
Liv fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Mist.«
»Alles in Ordnung?«, fragte Kelly durch ihre Bürotür.
Teagan hob die Hände und tat ahnungslos. »Ich konnte nicht wissen, dass Liv die Umschläge braucht.«
»Schon gut, Teagan. Es ist nicht deine Schuld«, sagte Liv und wandte sich Kelly zu. »Ich habe wieder einen bekommen.«
»Einen was?«, fragte Teagan.
Während Liv die Sache mit dem ersten Zettel erklärte, nahm Kelly ihr den anderen aus der Hand und las ihn. »O mein Gott.«
»Was?«, fragte Teagan und sah zwischen beiden hin und her. »Was steht drauf?«
Kelly gab ihn ihr weiter. »Hast du die Polizei verständigt?«
»Noch nicht«, sagte Liv. »Ich wollte zuerst den Briefumschlag suchen, um herauszufinden, ob der Brief verschickt oder persönlich abgegeben worden ist.«
»Das ist doch total gruselig«, sagte Teagan und gab den Zettel Liv zurück. »Der Kerl ist also …«, sie fuchtelte mit den Händen vor ihrem Gesicht herum, als könnte sie so etwas Schreckliches nicht aussprechen. »So was wie ein Stalker.«
War das möglich? Liv sah Kelly an und entdeckte in ihrem Blick dieselbe nervöse Unruhe, die auch ihr die Brust zuschnürte. »Ich weiß nicht, ob er mich schon vorher gestalkt hat, doch offensichtlich tut er es jetzt.«
»Du meinst, er hätte dich schon vorher stalken können und du hast nichts davon bemerkt?«, fragte Teagan.
»Ich weiß es nicht. Ich nehme es an.«
»Vielleicht will er es einfach nicht mehr geheim halten«, sagte Teagan mit weit aufgerissenen, glänzenden Augen. »Oder vielleicht überfällt er einen erst und stalkt einen dann. Du weißt schon, damit man so richtig Schiss hat.«
Liv drückte vorsichtig auf ihre Schwellung und versuchte nicht an die Faust zu denken, die sie verursacht hatte.
»Tee, bitte«, warnte Kelly. »Es ist schon schlimm genug.«
»Oh, tut mir leid. Hast du ihn gestern Abend gesehen?«, fragte Teagan und zeigte mit dem Finger auf die erste Zeile des Briefes. »Er schreibt, du hast gestern Abend gelogen .«
Liv schüttelte den Kopf. »Ich habe gestern den Zettel an meinem Wagen gefunden.«
»Und was ist gestern Abend passiert?«
Sie hatte ihren Dad besucht, mit Jason gesprochen, sich im Reihenhaus eingesperrt … »Die Geschichte kam gestern in den Nachrichten.«
»Richtig«, sagte Kelly. »Am Ende hat Sheridan dich gefragt, ob du Angst hattest, und du hast gesagt …«, sie hob ihre Faust wie eine Aktivistin, »nein, hatte ich nicht.«
»Um ehrlich zu sein hat Sheridan was rausgeschnitten«, erinnerte Liv sich. »Ich habe nicht gesagt, dass ich keine Angst hatte. Ich habe gesagt, dass ich keine Angst hatte, als ich zurückgeschlagen habe, sondern erst, als mir klar wurde, was vor sich ging.«
»Nun, das klingt nach einem deiner typischen Ich-werde-überleben-Sprüche.«
»Ihrer was?«, fragte Teagan.
»Liv zitiert immer Gloria Gaynor, wenn das Leben gerade mal zuschlägt.«
Teagan verzog das Gesicht. »Wen?«
»Lange her«, sagte Liv.
Kelly und Liv hatten das Ende der Prüfungen gefeiert und Livs schlechten Abschluss in Statistik begossen. Liv war aufgestanden, hatte angetrunken geschworen zu gehen und dabei wie bei einer politischen Kundgebung den Text von Gloria Gaynors Song »I will survive« geschmettert. Kelly hatte das nie vergessen. Hatte sie vergangene Nacht auch so geklungen? Hatte der Täter die Nachrichten gesehen und ihre Aussagen fälschlicherweise als couragiert gedeutet?
»Vielleicht hat es ihn geärgert, dass er mich offenbar nicht zu Tode erschreckt hat.« Sie legte eine Hand auf ihren Bauch, ihr wurde übel bei dem Gedanken, dass sie ihn vielleicht provoziert haben könnte. »Ich wollte einfach nur das Richtige tun und andere Frauen vor Überfällen schützen. Ich wollte aufhören, mich so schrecklich …« Verwundbar und weggeworfen zu fühlen.
Kelly legte ihr einen Arm um die Hüfte, und sie sahen sich lange an. Sie waren schon eine Ewigkeit befreundet und wussten, was sich hinter der Fassade verbarg. Liv las Sorge, Mitgefühl
Weitere Kostenlose Bücher