Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
allerlei Nippes, den sie während ihrer Ehe gesammelt hatte – es handelte sich eher um Erinnerungsstücke als Besitz. Die Kisten waren schwer, ihre Hand schmerzte, die Etiketten an der Seite erinnerten sie daran, was sie alles eingepackt hatte, und versetzten ihr einen Stich. Sie hätte vermutlich eine Pause machen sollen, aber sie wollte fertig werden, um nicht später noch einmal zurückkommen und sich wieder an alles erinnern zu müssen.
Sie hob eine Kiste mit der Aufschrift Tafelgeschirr – Fünfter Hochzeitstag hoch und verlor den Halt. Als der Karton auf den Boden knallte, brach er auseinander, und das hübsche, pastellfarbene Geschirr zersprang auf dem Boden. Plötzlich stieg die ganze aufgestaute Wut in ihr hoch, und sie stieß einen grellen, heiseren Schrei aus. Während der Schrei von den Wänden widerhallte, trat sie gegen den kaputten Karton. Ihre Augen brannten. Nein, Liv. Nicht wegen Thomas. Er ist es nicht wert.
»Livia?«
Sie zuckte zusammen, als sei ein Schuss losgegangen, dann bemerkte sie Daniel am Eingang. Schon wieder war er Zeuge eines Ausbruches von ihr geworden. Sie schämte sich und wurde noch wütender. »Machen Sie sich gefälligst bemerkbar, wenn Sie bei irgendwem zu Hause sind. Und hören Sie auf, mich Livia zu nennen, Herrgott noch mal. Sie schleichen hier herum, sehen zu, wie ich ausraste, also … Nennen Sie mich gefälligst Liv.« Sie wandte sich ab, stemmte die Hände in die Hüften und rief sich leise zur Ordnung. Er sagte nichts, gab keinen Ton von sich. Unmöglich zu sagen, was er gerade dachte. Sie versuchte einigermaßen ruhig zu atmen und drehte sich dann zu ihm um.
»Soll ich Ihnen helfen, oder hilft Ihnen Schreien eher?«, fragte er.
»Nein und nochmals nein.«
Sie hoffte, das würde ihn dazu veranlassen, wieder zu seinen Schlössern zurückzukehren, doch er kam in die Garage, sah sich die Kartons an, die sie schon umgeräumt hatte, die Scherben und blieb dann vor ihr stehen. »Wut und Tränen sind eine ganz normale Reaktion auf das, was Sie durchgemacht haben.«
Sie lachte wütend und bitter auf. Er wusste ja gar nicht alles. »Es soll also normal sein, wenn man zusammenbricht?«
»Wer sagt denn, dass Sie zusammenbrechen?«
Was wusste er schon? Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf, als sei sie außer Atem, und versuchte den Sturm von Gefühlen unter Kontrolle zu bringen, der sich seit Monaten in ihr zusammengebraut hatte. Während sie die frische Luft einatmete, fiel Daniels Blick auf ihren rechten Bizeps. Er kam näher heran, nahm ihre Hand und drehte die blasse Innenseite ihres Armes dem gnadenlos grellen Licht in der Garage zu und beleuchtete die Quetschung.
»Sieht wie ein Handabdruck aus«, sagte er.
»Ist es auch.«
Er fuhr mit seinen rauen Fingerspitzen sachte über ihre Haut, als könne er die sich verfärbenden Kreise wie Braille-Schrift lesen. Sie wollte sich dieser Vertrautheit entziehen, doch als er nach ihrer anderen Hand griff, sah sie einfach nur zu, wie er wieder seinen warmen Finger über das nahezu identische Muster zog.
»Ich hatte Glück«, sagte Liv.
Dunkle Augen sahen zu ihr auf. »Nein, Sie waren clever. Sie sind Ihrem Instinkt gefolgt.«
»Ich hätte auch wegrennen können.«
»Vorher sollte man dem Gegner lieber noch einen Tritt gegen das Knie verpassen. Boxer lernen das nicht, es gibt aber nichts, was einen schneller zu Boden gehen lässt als ein Stoß mit dem Absatz ins Knie. Hau ihn um, dann renn um dein Leben.«
Sie wusste nicht, ob sie erschüttert oder dankbar für den Tipp sein sollte. Vielleicht beides. »Ich wünschte nur, ich wüsste, ob er mich oder das Gebäude beobachtet hat.« Sie sah hinauf zu den drei hoch gelegenen Fenstern. Draußen war es bereits dunkel. Das verursachte ihr Unbehagen.
»Ist Ihnen kalt?«, fragte er.
»Nein. Ich … habe Angst.«
»Liv, Angst ist ein Instinkt.«
»Vielleicht, ich mag sie trotzdem nicht.«
»Sie sollten auf sie hören. Das kann Ihnen helfen.«
Bisher hatte Angst nur dafür gesorgt, dass sie sich verletzbar fühlte. »Na klar. Und wie?«
Entweder hatte er die Skepsis in ihrer Stimme überhört oder beschlossen, sie zu ignorieren, denn er lehnte sich entspannt gegen den Wagen, als machte er sich auf eine längere Plauderei gefasst.
»Wenn man bei der Feuerwehr arbeitet, kommt man an Orte, an die niemand gehen sollte«, sagte er zu ihr. »Die natürliche Reaktion ist Angst. Das Gehirn rät einem abzuhauen. Wenn das aber nicht geht, wenn der Job verlangt zu bleiben,
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