Ich kenne dein Geheimnis
will?« Silvia hielt inne, um ihre
Freundin nicht noch mehr zu verunsichern. Inzwischen hatte die Kommissarin das Projektil in eine Plastiktasche gesteckt und
in die Kriminaltechnik geschickt.
Chiara seufzte: »Nein. Glaubst du, jemand will mich warnen?«
»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube, man will dich einschüchtern.«
»Könnte es nicht auch ein schlechter Scherz sein?«
»Vielleicht, möglich ist alles …«
»Oder ein Geistesgestörter …«, Chiara bohrte weiter.
»Keine Bange, die sind meist harmlos.«
Silvia zeigte auf das Foto des dunkelhaarigen Kindes, das sie in Livraghis Haus entdeckt hatten.
»Sie ist wunderschön«, sagte Chiara, fasziniert von dem ausdrucksvollen Blick des Mädchens.
»Ja, sie hat etwas Besonderes, findest du nicht auch?« Silvia |193| schob das Bild in die Akte »Laguna-Express« zurück. »Aber kommen wir zu dir zurück«, sie zündete sich eine Zigarette an. »Stört
es dich, wenn ich rauche?«
»Ich bin’s gewöhnt«, entgegnete Chiara resigniert.
Die Kommissarin lachte und stand auf, um das Fenster zu öffnen. »Du hättest es nur zu sagen brauchen, dann hätte ich gleich
das Fenster aufgemacht. Hast du jemanden verärgert oder enttäuscht?«
»Das Einzige, was mir einfällt, ist dieses verfluchte Interview mit Smeralda Mangano. Was ich damals im Studio mit dem inneren
Auge gesehen oder, besser gesagt, gespürt habe, war wie ein Schock. Die Mangano hat jahrelang alle belogen, stell dir das
vor! Und ich bin sicher, dass es zwischen ihr und der Toten im Zug eine Verbindung gibt.«
»Ich wüsste nicht, inwiefern Smeralda Manganos verheimlichte Mutterschaft etwas damit zu tun haben sollte …«, Silvia warf
ihr einen resignierten Blick zu.
»Ich verstehe es ja auch nicht. Es ist nur so ein Gefühl.«
»Das heißt, du könntest dich auch geirrt haben? Immerhin war es keine klare Vision, wie du selbst gesagt hast, sondern etwas
sehr Konfuses …«
Chiara fuhr sich über das Gesicht. Sie war todmüde. Nach dem Alptraum hatte sie keine Ruhe gefunden. Aus Angst, er könne sich
wiederholen. Auch im Zug hatte sie keine Sekunde geschlafen.
»Willst du einen Espresso?«
»Nein, ich habe im Zug schon zu viel Kaffee getrunken. Hast du etwas Neues über die Mangano herausfinden können?«
Silvia runzelte die Stirn. »Ich habe einen meiner Mitarbeiter nach Sizilien geschickt. Die Mangano wurde in Mongiuffi geboren.
Weißt du, dass ihr richtiger Name Maria Catena Calogero ist?«
|194| Chiara starrte sie ungläubig an. »Was hat er noch herausgefunden?«
»Nichts, außer einem Haufen Gerüchte und Verleumdungen. Smeralda Mangano, oder besser, Maria Calogero, ist jedenfalls nicht
vorbestraft.« Silvia nahm einen letzten Zug und drückte die Zigarette dann im Aschenbecher aus. »Chiara, ich frage dich noch
mal. Könntest du dich nicht doch getäuscht haben?«
»Das wäre das Beste«, Chiara schüttelte den Kopf, »aber da ist noch etwas.«
»Ich höre.«
»Ich glaube, jemand will mich umbringen.«
»Wer?«
»Zwei Männer. Ich habe sie gesehen, das heißt, ich habe sie vor meinem inneren Auge gesehen …«
Silvia wurde nervös. Im Gegensatz zu ihren Kollegen, für die nur klare Beweise zählten, hatte sie durch Chiara gelernt, dass
es hinter der Grenze des Sichtbaren noch etwas anderes gab. Ein Netz, das alles untrennbar miteinander verband und in dem
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig existierten. Und sie wusste auch, dass Chiara in ihren Visionen die für
andere unsichtbaren Fäden und Knoten dieses Netzes erkennen konnte.
»Es war wie ein Ausschnitt aus einem Film. Sie warfen mich aus einem Fenster. In einer anderen Vision drohten die gleichen
Männer, mir die Zunge abzuschneiden.«
Silvia wurde blass. Die abgeschnittene Zunge. Eine Verbindung zu Livraghi! Von diesem grausamen Detail konnte Chiara nichts
wissen, die Polizei hatte es bislang nicht veröffentlicht. »Erzähl mir alles ganz genau.«
Nachdem Chiara ihre Visionen bis ins letzte Detail beschrieben hatte, stand für Silvia fest: Ihre Freundin war in Gefahr. |195| »Bleib einige Tage hier. In Mailand kann ich dich besser schützen.«
Chiara schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, die Arbeit … Außerdem kommt Paolo bald zurück. Ich will zu Hause sein, wenn er
kommt.«
Silvia war überzeugt, dass Paolo mit ihrem Vorschlag einverstanden gewesen wäre. Chiaras Sicherheit hatte für ihn höchste
Priorität. Sie wusste natürlich nicht,
Weitere Kostenlose Bücher