Ich kenne dich
Trauer ist immer noch ansteckend wie die Pest, und diese Frau vergisst, dass Chloe zwar immer noch vierzehn ist, wir anderen aber auf die fünfundzwanzig zugehen und längst nicht mehr in Waldhütten spielen.
»Gott sei Dank war es keine von uns«, sagt Emma, und ich ignoriere sie.
»Ah«, sagt Terry und senkt kurz den Kopf. »Zur rechten Zeit eine Mahnung für jene von uns, die überrollt wurden von der Tragödie des heutigen Abends.« Er blickt durchdringend in die Kamera. »Das ist keine Seifenoper, Freunde – das ist eine echte Gedenkstätte für ein junges Mädchen.« Sie blenden eine Bildermontage ein von Szenen in der Stadt in den Tagen vor Chloes Beisetzung. Die Karten und Stoffteddys. Die Berge von welkenden Blumen. Terry hört nicht auf zu reden. Anscheinend ist er sein eigener Teleprompter.
»Ein junges Mädchen, das so sehr geliebt hat, mit Haut und Haaren, dass sie keine andere Möglichkeit sah, als ihr Leben an der Seite ihres heimlichen Geliebten zu beenden. Zehn Jahre sind vergangen – aus diesem Grund sind wir heute Abend hier. Lassen Sie uns einen Moment schweigen, um uns zu besinnen und – wie Peggy uns erinnert hat – unser Augenmerk auf Chloe zu richten, tot, aber nicht vergessen, und im Tode genauso sehr geliebt, wie sie geliebt hat im Leben.«
Die Schweigeminute, die zweite an diesem Abend, ist die Gelegenheit, die Schokoladenwerbung des Sponsors einzublenden und zur Werbung umzuschalten. Emma steht auf und geht ins Bad. Sie macht einen Buckel, und ihr Hemd ist zwischen den Schulterblättern dunkel verfärbt von Schweiß. Ich überlege, nur für einen Augenblick, ob ich ihr hinterhergehen soll.
Sonst läuft es doch so, oder nicht? Mädchen gehen immer zu zweit auf die Toilette. Sie sollte weinen, und ich sollte sie halten und tröstende Worte sagen, ihr Klopapier geben und helfen, ihre Wimperntusche in Ordnung zu bringen. Ihr versichern, bevor wir in das grelle Licht der Flimmerkiste im Wohnzimmer zurückkehren, dass sie gut aussieht, dass es kein Problem ist, dass niemand sie für dumm hält. Ich schalte den Fernseher stumm und lausche ein paar Sekunden dem Wasserrauschen, dann gehe ich in die Kochnische, um Kaffee zu machen.
Dieser Abend entwickelt sich zu einem weiteren Chloe-Marathon. Terry fragte Peggy nach der Leiche im Präsens – »Glauben Sie, Sie kennen den Verstorbenen?« – , und ich denke darüber nach, denke, dass Wilson noch hier ist und ganz und gar nicht tot, nicht für seine Eltern, nicht für die, die ihn vermissen und immer noch darauf warten, dass er nach Hause kommt. Nicht für Terry, der sich nach wie vor weigert zu glauben, trotz der letzten beiden Überfälle, dass es nicht Wilson war, der uns belästigte. Ich frage mich, nicht zum ersten Mal, ob Wilsons Eltern zugesehen haben, als der Bürgermeister zu graben anfing. Ob sie dasselbe nervöse Gefühl im Magen spürten wie ich den ganzen Abend.
Das Präsens steckt voller Möglichkeiten: Die Zukunft ist daran gekoppelt wie eine Reihe Zugwaggons, die durch einen Bahnhof rattern, einer nach dem anderen nach dem anderen. Nun, mit der Identifizierung des Leichnams, ist diese Möglichkeit ausgeschlossen, und, schlimmer noch, Wilsons Mum und Dad, wo auch immer sie sind, werden erfahren, dass sie nie wirklich existierte und auch nicht in all den Jahren, in denen sie darauf hofften.
Der Kaffee riecht aschig und faul – am Tassenrand schwimmt ein bunter Bläschenring, den ich mit dem Teelöffel abschöpfe.
»Hier«, sage ich, immer noch stehend, als Emma hereinkommt.
»Ich bin nicht betrunken«, erwidert sie, nimmt den Kaffee und schnüffelt daran, ohne zu trinken.
»Das habe ich auch nicht behauptet. Es ist vier Uhr morgens. Vielleicht bist du noch fit, ich bin jedenfalls todmüde.«
»Ja«, sagt sie, und ihr Blick wandert über die Wand hinter mir auf der Suche nach einer Uhr, wie ich vermute. Als sie nichts außer einer gesprungenen Kachel und einem Werbekalender für Putzmittel entdeckt, den ich gratis auf der Arbeit bekommen habe und der immer noch den Januar zeigt ( Supa-Sponge – macht Fett den Garaus! ), richtet sie die Augen wieder auf mich. »Es ist spät«, stimmt sie mir zu und nimmt rasch einen Schluck. »Soll ich gehen?«
Ich nehme meine Kaffeetasse, und wir gehen zurück ins Wohnzimmer – obwohl es kein extra Zimmer ist, sondern nur der Bereich in dem größeren Raum, wo man auf ausgetretenem Teppich geht statt auf welligem Linoleum.
»Ich bleibe auf«, sage ich. »Entweder sie finden noch was
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