Ich kenne dich
»Du kannst jetzt nicht ins Bett. Es ist noch nicht mal vier. Komm, iss wenigstens ein bisschen Käse und ein paar Cracker, und schau dir den Film mit deinem Vater an.«
»Ich bin wirklich müde.«
Barbara starrte hoch zum Treppenabsatz im Halbdunkel. Ich konnte nicht viel hören aus dem Wohnzimmer, aber ich wette, es war der Film Ist das Leben nicht schön , den sie sich ansahen. Das war so gut wie sicher.
»Hast du was getrunken?«
»Nein. Nein, hab ich nicht.« Sie starrte weiter hoch. »Ich habe nichts getrunken. Ich kann dich anhauchen, wenn du willst.«
»Und du hattest auch nicht schon wieder Krach mit dieser Chloe, oder doch?« Barbara machte einen Schritt vorwärts und legte die Hand auf den blitzsauberen cremefarbenen Hörer des Telefons in der Diele. »Ich habe gehofft, du würdest dich nicht mehr so oft mit ihr treffen. Soll ich ihre Mutter anrufen?«
»Ich bin nur müde. Ich werde mich kurz hinlegen. Ich komme nachher wieder runter, okay? Dann können wir das Ende des Films zusammen schauen.«
Selbst ich konnte es hören: meine Stimme, dünn und flehend. Es war nicht gelogen. Ich war wirklich hundemüde – obwohl da noch was anderes mitspielte: die Art, wie die Männer auf dem Parkplatz ihre Gesichter vermummt hatten, nicht nur wegen der Kälte, sondern noch aus einem anderen Grund. Ich stellte mir vor, wie sie durch das Unterholz krachten und in den stillen Wald hineinriefen, und ich fröstelte.
»Lass sie in Ruhe, Barbara. Sie sagt, sie will ins Bett.«
Donalds Stimme polterte durch die offene Wohnzimmertür. Ich konnte mir vorstellen, wie er dasaß mit der Fernbedienung und einem Glas eingelegter Zwiebeln. Mit einer Flasche Newcastle Brown Ale und einem Glas zwischen den Füßen.
»Er wartet auf dich«, sagte ich. »Du solltest besser zu ihm reingehen.«
Als ich die Augen aufschlug, hatte jemand das Licht in meinem Zimmer ausgemacht und mich bis zum Kinn zugedeckt. Ich glühte, und ich glaube, das hat mich geweckt. Ich ließ den Blick wandern. Wäre ich sofort wieder eingeschlafen, hätte ich keine Erinnerung daran gehabt, dass ich kurz wach war. Es ist eine Tatsache, dass der Mensch nachts im Durchschnitt zehnmal aufwacht, aber solange man weniger als drei Minuten bei Bewusstsein ist, kann man sich hinterher nicht daran erinnern.
An jenem Abend wurde ich mit einem unruhigen Gefühl wach. Es war dunkel. Ich konnte unten die Flimmerkiste hören und Barbara, die hin und wieder lachte.
Früher, als ich klein war, wurde ich zur Strafe nach dem Abendessen ins Bett geschickt. Ich kletterte immer heraus und legte das Ohr an den Boden, während ich Terrys Echo lauschte, der zwischen den Bodendielen die Sechs-Uhr-Nachrichten moderierte. Ich konnte mir Donald und Barbara immer sehr gut vorstellen. Wie sie sich amüsierten und mich komplett vergaßen.
Es war immer noch Weihnachten, und ich stellte sie mir wieder vor. Barbara würde nach dem Ende des Films aufstehen und imaginäre Krümel von ihrem Rock bürsten.
»So, das war’s dann für dieses Jahr«, würde sie sagen und die Weihnachtsbaumbeleuchtung ausschalten. Donald würde geistesabwesend nicken.
»Du hast uns richtig toll verwöhnt, Engel.«
Und sie würden lachen, als wären es die Reste eines saukomischen Witzes, den die beiden vor vielen Jahren angefangen hatten, bevor ich geboren wurde und als sie noch jung waren.
Ich lag da, ein flatterndes Gefühl im Magen, und überlegte, wie lange sie verheiratet waren, bevor ich auf die Welt kam. Vierzehn Jahre – eine Ewigkeit. Und ich überlegte, wie alt sie waren, als sie mich bekommen hatten. Alt. Sie gingen nicht mehr arbeiten. Auf mich wirkten sie nicht wie alte Leute, sie konnten noch selber laufen und alles, aber wenn sie mich abholten oder bei Elternabenden oder so, war es demütigend.
Hatten sie im Grunde gar keine Kinder gewollt? Hatten sie sich keine Sorgen gemacht, dass ich sonderbar werden könnte, wie Wilson? War ihnen nicht klar, dass man mich dafür auslachen würde in der Schule? In meinem Bett versuchte ich, die Energie aufzubringen, um sie wieder zu hassen, aber Wilson war in meinem Kopf, jene Hände, die die Enden seines Schals in seine Jacke steckten, und meine Kehle wurde so eng, dass ich das Gefühl hatte, zu ersticken.
7
Es war Silvester, und ich hätte eigentlich bei Chloe sein und nicht mit zu vielen Ritz-Crackern zu Hause sitzen sollen. Barbara hatte sie günstig erstanden, weil ein paar Schachteln von der Auslage gefallen waren und mit braunem Klebeband
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