Ich kenne dich
Blumenmuster aus dem Teppich gesaugt, und ich werde bald auf die Dielen stoßen, wenn ich nicht endlich an die frische Luft komme.«
»Es ist saukalt draußen«, sagte ich. »Willst du was anderes sehen als wir?« Ich schaute wieder zum Fernseher: Leslie Grantham als Colonel Mustard warf Mrs White gerade etwas Unaussprechliches an den Kopf, aber das Bild erlosch, und die Mattscheibe wurde schwarz. Barbara hielt die Fernbedienung in der Hand, die sie nun an ihren Platz, in das Seitenfach von Donalds Sessel, steckte.
»Wenn es nicht der Frost ist, sind es irgendwelche Triebtäter«, sagte sie. »Es ist unser Recht, aus dem Haus zu gehen. Sonst drehen wir noch durch. Sieh dir deinen Vater an.« Donald zupfte an dem Schonbezug auf der Rückseite meines Sessels. »Außerdem«, sie zog die Augenbrauen hoch und blickte mich vielsagend an, obwohl ich nicht kapierte, worauf sie hinauswollte, »musst du noch etwas erledigen, nicht wahr, Laura? Na los, Schuhe und Jacken anziehen. Lola, du kannst die neue Jacke tragen. Aber lass bloß nicht wieder die Ärmel über das Geländer schleifen.«
Sie stellte Donald vor den Spiegel in der Diele und bearbeitete ihn mit der Fusselrolle, bevor sie die Haustür öffnete und uns hinausließ.
Ich hätte darauf vorbereitet sein sollen, doch die Kälte draußen war ein Schock für meine Lunge, biss sich in meine Nasenhöhlen und verursachte mir Zahnschmerzen. Die längste Nacht des Jahres lag schon zwei Wochen zurück, aber der Winter kam gerade erst richtig in Fahrt, und der Frühling schien in immer weitere Ferne zu rücken. Die Gehwege und die Hauswände waren mit Frost verziert, und wortlos nahmen Barbara und ich Donald in die Mitte – ohne ihn zu berühren, aber dicht an seiner Seite, während er über den rutschigen, glitzernden Asphalt navigierte. So marschierten wir den ganzen Weg in die Stadt, die Fishergate Hill hoch, vorbei am Bahnhof, wo das Mädchen belästigt worden war: drei Gestalten unter dem weißen, frostigen Himmel. Barbara schnalzte ungeduldig mit der Zunge und schüttelte missbilligend den Kopf über Leute, die uns nicht vorbeilassen wollten.
Es war ein heller, klarer Tag. Alle glatten Oberflächen – Motorhauben, Leuchtreklamen an Bushaltestellen, die Abfalleimer aus grün-goldenem Kunststoff – waren bedeckt mit einer immer höher wachsenden Schicht Weiß, und Donald trug seine hellbeige Sportjacke, ein altmodisches Stück aus glänzendem Stoff, nicht das Richtige bei dem Wetter, aber er wollte nichts anderes anziehen.
Dieser Einkaufsbummel war etwas Besonderes. Ich wusste, wir waren anders als andere Familien: Ich hatte wenige Erinnerungen an meine Eltern außerhalb unseres Hauses. Ich wusste, sie machten manchmal einen Nachmittagsspaziergang, wenn ich in der Schule war, und Barbara fuhr zweimal im Monat mit Donald zum Supermarkt, aber das war immer tagsüber, sodass ich es nie mitbekam. Es gab nie einen Strandurlaub oder ein paar Wochen in Spanien. Nicht einmal Tagesausflüge an den Windermere oder in den Grizedale oder nach Blackpool. Nichts dergleichen.
Der einzige Ausflug, an den ich mich erinnern konnte, war der nach Nordwales in einen Ferienpark. Ich musste damals fünf oder sechs gewesen sein. Eine dunkle Erinnerung an eine düstere Kneipe mit Stühlen, deren Sitzpolster mit einem blau karierten Stoff bezogen waren wie die Sitze in den Linienbussen. Es war ein Varieté-Abend mit Orville the Duck. Ich hockte zwischen Donalds Beinen unter dem Tisch und goss Billigbier aus einer Dose vom Supermarkt in ein leeres Pint-Glas. Barbara hatte ein Pint Limonade bestellt und mir zu trinken gegeben, und danach hielt sie das leere Glas zwischen den Beinen. Mein Mund und meine Haare waren klebrig. Die braune Flüssigkeit wurde weiß, als sie ins Glas schwappte, und schäumte über auf ihre Lackpumps.
»Halt das Glas schräg! Halt es schräg!«, zischte sie und zog ruckartig ihre Füße aus der Pfütze.
Es war das Geld. Keiner der beiden ging arbeiten. Barbara war früher Putzfrau, Kantinenfrau und Bürohilfe, aber jetzt war sie nichts, und Donald bekam Geld von der Stadt, damit er zu Hause bleiben konnte, während sie irgendeine Beihilfe bekam, weil sie ihn pflegte. Es war auch wegen Donald. Je interessanter und bunter Donalds Hobbyraum wurde, desto seltener wollte er herauskommen in die Außenwelt. Die Vorstellungen in seinem Kopf waren viel realer für ihn, sogar realer als die Dokumentationen und Naturfilme, die er sich gerne im Fernsehen anschaute. Nach und
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