Ich kenne dich
der Küche saß und diese vernünftige Stimme benutzte, die Barbara hatte, wenn sie mit dem Wasserwerk oder der Arztpraxis sprach.
»Auwei«, sagte er. Ohne es zu bemerken, hatte ich die Karten fallen gelassen. Nun lagen sie über den Teppich verstreut. Meine Hände zitterten.
»Was ist? Hunger?«
Meine Kehle schnürte sich zu. Ich wollte es ihm sagen, aber es schien so einfach und gleichzeitig so unmöglich, also sagte ich nichts.
»Sowas geht vorbei«, sagte Donald. »Und ehe man sichs versieht, wirst du wieder durch die Gegend scharwenzeln mit deiner Chloe. Und mit dieser Emma. Sie kann nicht so schlimm sein, oder, wenn Chloe sie so gernhat?«
»Nein«, sagte ich.
»Aber wenn du draußen bist, geh bitte nicht in den Park. Tu deinem Vater den Gefallen, okay? Beruhige sein Gewissen, und sag ihm, dass du den Park und andere dunkle Orte meidest, bis das alles hier … «, er deutete auf den Fernseher, »… aufgeklärt ist.«
»Ich dachte, er hat aufgehört?«
»Vorerst. Aber wo einer ist, ist der Nächste nicht weit und schleicht durch die Gegend. Da draußen laufen alle möglichen Spinner herum.« Donald fasste an seinen Mund und schluckte, als würde es ihm Schmerzen bereiten. Er schloss die Augen und streckte den Finger in die Luft – sein Zeichen für mich, leise zu sein. Dann lachte er.
»Weißt du noch, dein Onkel Ronald? Wahre Liebe, oder was auch immer dafür steht, kennt keine Grenzen.«
»Alles in Ordnung, Dad?«
»Zuerst müssen sie leuchten im Dunkeln«, sagte er und öffnete die Augen. Er trug eine braune Hose und ein braun-grün gemustertes Hemd – sich wiederholende Rauten zwischen schmalen Streifen. Es war sein Lieblingshemd, und es war so verschlissen, dass der Stoff an den Ellenbogen fast durchsichtig war.
»Dad?«
»Man könnte etwas mit ihren Genen machen«, sagte Donald. »Es würde ihnen nicht wehtun – es würde … « Er ging auf und ab. »… verhindern, dass so viele … « Er ertappte sich und verstummte abrupt, als wäre er kurz davor gewesen, ein schmutziges Wort zu sagen. »Lola«, sagte er, beugte sich zu mir, packte mich an den Schultern und lächelte mir ins Gesicht. »Dann wärst du sicher.«
Ich roch in diesem Moment Zigarettenqualm, sehr stark, und Barbara stand im Zimmer, die Hand auf Donalds Ellenbogen.
»Lass sie los«, sagte sie barsch. Sein Griff versteifte sich, dann lockerte er ihn. Sein Lächeln verblasste. Er verdrehte die Augen. Wir werden sie bei Laune halten, sagte er, ohne die Worte aussprechen zu müssen.
»Donald? Donald? Wann hast du das letzte Mal was gegessen?«, fragte sie laut, als wäre er schwerhörig, was nicht der Fall war. »Kommt schon, ihr zwei. Die Teller stehen schon seit fünf Minuten auf dem Tisch.«
Sie scheuchte ihn in die Küche. Ich klammerte mich am Rand der Couch fest, als würde der Boden schwanken, und zitterte.
19
Chloe kehrte in derselben Woche zurück in die Schule. Blasser, ein bisschen blauer an den Schläfen vielleicht, aber, wie sie jedem versicherte, »im Prinzip wieder okay«.
Bloß mir versicherte sie nichts. Ich kam morgens in den Kunstraum und stellte fest, dass Emma auf meinem Platz saß. Ich hätte damit rechnen müssen – ich hätte mich darauf vorbereiten müssen, wie ich reagierte, wenn ich die beiden sah, während sie sich »unter vier Augen« über Chloes Erfahrungen im Krankenhaus unterhielten, laut genug, dass jeder es hören konnte.
Als Chloe mich sah, blinzelte sie, berührte Emmas Arm sehr sanft mit dem Zeigefinger und sagte: »Da ist sie.«
Emma drehte langsam den Kopf zu mir. Ein träges, mäßig interessiertes, spöttisches Grinsen. Sie trug eine Goldkette mit einem Herzanhänger offen über ihrer Schulbluse. Ich erkannte die Kette; sie gehörte Chloe.
Emma sah auch anders aus. Während Chloe blass war und auf der Nase offene Poren hatte, hatte Emma Farbe in den Wangen, und ihre Haare waren geschmeidiger und glänzender, als ich es je zuvor bei ihr gesehen hatte. Ihre Schultern hingen nicht mehr so stark, und sie lächelte mehr. Sie hatte immer noch vorstehende Zähne, aber irgendwie sah es nicht mehr so schlimm aus wie noch vor wenigen Wochen.
»Sieht so aus«, sagte sie und wandte rasch wieder den Kopf. »Was soll’s.«
Ich ging tatsächlich hin, um mich neben sie zu setzen. Ich tat so, als wüsste ich nicht, was los war. Wo hätte ich sonst sitzen sollen? Ich zog den Stuhl hervor und spürte eine seltsame Mischung aus verschiedenen Dingen. Schwere Eisklumpen im Magen und der erste
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