Ich kenne dich
richtige Kummer, den ich je erlebte.
»Was macht sie?«, fragte Emma Chloe. Emma bewegte ruckartig den Kopf und verharrte mit ihrem aufgeschlagenen Hausaufgabenheft in der Hand. Am liebsten hätte ich die Seiten herausgerissen und zerknüllt und ihr in den Mund gestopft. Ihre Stirnfransen wackelten jedes Mal, wenn sie ausatmete.
»Ich sitze hier«, sagte ich achselzuckend. »Ich sitze immer hier.«
Der Rest der Klasse war hinter meinem Rücken und starrte zu uns herüber. Ich konnte sie hören, das ungewohnte und größtenteils harmlose Angebergetue der Jungs, und zwischen ihren tieferen und grollenderen Stimmen das helle Tuscheln und Lästern der Mädchen, tratschend, prüfend und vergleichend.
»Kommt schon«, sagte ich in vernünftigem Ton und stellte meine Tasche auf den Tisch. »Es gibt genug Platz.«
Ich wollte Chloe fragen, wie es ihr ging. Es war einfach, sie dazu zu bringen, über sich zu reden. Vielleicht habe ich sogar gelächelt – ein klebriges und ängstliches Lächeln, gezwungen und weniger erwachsen, als ich mir gewünscht hätte. Ich wäre Emmas Freundin geworden und hätte es ertragen zu dritt, um nicht der restlichen Klasse vorgeworfen zu werden wie ein blutiger Köder vom Heck eines Schiffs.
Chloe streckte die Füße unter dem Tisch vor. Ihre Schuhe trafen meine Schienbeine. Es war kein richtiger Tritt, sondern eher ein Schieben, sodass der Dreck von ihren Schuhsohlen an meinen Strümpfen hängen blieb. Sie gähnte ausgiebig, den Handrücken vor dem Mund, dann beugte sie sich vor und legte den Oberkörper über die Taschen und Jacken auf dem Tisch. Bizarrerweise betrachtete Emma Chloe während dieses Gähnens mit einem gewissen Stolz in ihrem Gesicht. Als wäre Chloe ein neugeborenes Baby oder die angesagteste Handtasche. Es lag reine Liebe in diesem Blick, und auch eine Art von selbstzufriedenem Besitzanspruch, der eigentlich exklusiv für mich bestimmt war. Ich sah mich selbst dort sitzen, erst letzte Woche, und verstand plötzlich mit schrecklicher, schmerzhafter Erkenntnis, was die Leute mit der »Lesbefrens«-Sache meinten.
»Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals hier gesessen hat«, sagte Chloe und breitete sich auf dem Tisch aus, während sie Emmas Tasche als Kopfkissen benutzte. Ich konnte von oben auf ihren Kopf sehen, auf den messerscharfen Scheitel und den Ansatz ihres französischen Zopfs, der so stramm gebunden war, dass ihre Adern an den Schläfen hervortraten.
Emma legte das Hausaufgabenheft weg und massierte Chloe den Rücken.
»Sie ist noch nicht gesund«, sagte sie mit widerwärtiger Freundlichkeit. »Eigentlich dürfte sie noch gar nicht hier sein, aber sie wollte unbedingt raus, weg von ihrer Mutter.« Sie leckte über ihre Zähne hinter den Lippen und starrte mit glasigem Blick in die Luft zwischen uns, entschlossen, mich nicht anzusehen. »Sie haben beschlossen, ihren Hausarrest zu verlängern um mehrere verdammte Monate «, sagte Emma, scheinbar zu niemandem speziell.
Chloe sagte etwas, aber ihre Stimme klang gedämpft durch die Tasche, auf der ihr Kopf lag. »Sag ihr, sie soll sich verpissen. Ich kann keinen Stress brauchen.«
»Du hast gehört, was sie gesagt hat«, meinte Emma, die weiter massierte und ein schnalzendes Geräusch in der Kehle machte. Es hätte Asthma sein können, oder ein Schnurren. »Warum ziehst du nicht Leine und setzt dich zu deinen anderen Freunden?«
Ihr Lächeln machte ihr flaches Gesicht noch breiter.
Chloe nennt dich Pfannengesicht , hätte ich am liebsten erwidert.
Die Wände des Kunstraums waren vollgehängt mit Zeichnungen, die auf schwarzen Bastelpapierbögen befestigt waren. Eine Wand war ausschließlich Stillleben gewidmet: Karotten und Tomaten, von einem Scherzbold in anzüglicher Anordnung gezeichnet, wackelige Bananen, mit Filzstift gemalt, und das Bild von einer zerknüllten Chipspackung, das fast Halluzinationen hervorrief in seiner Detailgenauigkeit. Eine andere Wand war fleckigen und verschmierten pointilistischen Versuchen gewidmet, und die dritte Wand Bildern von geknüpften Seilen, Wollknäueln, Büscheln aus Fadengewirr: alles sehr plastisch in schwarzen und braunen Ölpastellen, dick genug, um seine Initialen mit dem Fingernagel einzuritzen.
Ich stand auf, zog meine Tasche unsanft unter Chloe hervor und ging nach hinten in die Ecke zum Waschbecken, um mich dagegenzulehnen. Natürlich gab es keinen anderen freien Platz mehr. Es machte nicht den Eindruck, als hätte uns jemand Beachtung geschenkt, da jeder
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