Ich liebe dich, aber nicht heute: Roman (Piper Taschenbuch) (German Edition)
wie sie es die Stunden zuvor häufig getan hatte. Die meisten Leute liefen kurzärmelig herum, für eine Jacke oder gar einen Mantel war es offensichtlich noch zu warm. Es gab heute zwar einige Wolken, die sich immer mal wieder vor die Sonne schoben, aber es herrschten trotz allem sommerliche Temperaturen. Liane schlüpfte in den Trenchcoat, schob die Ärmel hoch, verknotete den Gürtel und testete, wie weit sich der Mantel beim Gehen öffnete. Jedenfalls nicht bis zum Oberschenkel, also steckte sie ihren Hausschlüssel, das Handy und einen Geldschein in die Manteltasche und zog die Haustür hinter sich zu.
Den ganzen Weg zum Bahnhof hatte sie das Gefühl, dass ihr jeder ansehen musste, was sie vorhatte. Schon, weil ihre Körpersprache anders war als sonst. Sie bewegte ihre Hüften stärker, stellte sie fest. Das ungewohnte Gefühl, völlig frei zu sein, jeden Luftzug zwischen den Beinen zu spüren, schürte ihre Lust. Vielleicht war überhaupt die Erwartung das Schönste daran, dachte sie und achtete auf das leichte Aneinanderreiben ihrer bloßen Schenkel beim Gehen. Wie würde es sein? Wie würden sie sich gegenüberstehen? Wo würde er sie anfassen? Schon dieser Gedanke beflügelte sie und trieb ihr Schweißperlen zwischen die Brüste.
Liane betrat das Bahnhofsgebäude und genoss die angenehme Kühle, die sie empfing. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie noch vier Minuten Zeit hatte, bis der Zug einfahren würde. Für eine Sekunde spürte sie Panik. Was machte sie hier überhaupt? Sollte sie nicht umkehren? War sie noch sie selbst? Sie dachte an Marius und ihr Experiment, betrachtete kurz die Reisenden in ihren Sommersandalen und T -Shirts und versuchte die Blicke zu ignorieren, die sie neugierig streiften. Sie würde erst aus dem Gebäude treten, wenn der Zug vollkommen leer war, er als Letzter noch auf dem Bahnsteig stand und sich suchend umsah.
Ihre Aufregung wuchs mit jeder Sekunde.
Gleich fang ich an zu zittern, dachte sie, und als die Ansage kam, man möge von der Bahnsteigkante zurücktreten, weil der Zug aus Zürich auf Gleis 1 einliefe, war ihr fast übel. Reiß dich zusammen, sieh einfach nur gut aus, dachte sie. So wie Ingrid Bergman in Casablanca . Ein bisschen verwegen, aber trotzdem mit Sehnsucht in den Augen. Blödsinn, dachte sie gleich darauf, wie soll das denn gehen? Sie fuhr sich lockernd mit allen zehn Fingern durch die Haare und vergrub die Hände sofort wieder tief in ihren Manteltaschen.
Dann lief der Zug ein.
Eine Reisegruppe drängelte sich durch die Tür hinaus auf den Bahnsteig und nahm ihr die Sicht. Unruhig trat sie einen Schritt zur Seite, aber es nützte nichts, sie konnte nichts sehen, eine Familie mit zwei kleinen Kindern mühte sich am Ausgang mit einigen Gepäckstücken ab.
Ich lass mir hier doch nicht meinen Auftritt verderben, dachte Liane und ging an ihnen vorbei hinaus. Da sah sie ihn. Jochen spielte das Spiel mit, ohne ihre Spielregeln zu kennen.
Er stand groß und abwartend und anscheinend völlig relaxed mitten auf dem Bahnsteig. Er trug eine schwarze Jeans und ein schwarzes Hemd, die Ärmel bis zum Ellbogen aufgekrempelt. Seine Arme hingen locker herab, keine einstudierte Geste, nichts, er stand einfach da und sah sie an. Und selbst auf diese Entfernung war sein Blick provokant, oder bildete sie sich das nur ein? Ihre Hände in den Manteltaschen ballten sich vor Aufregung zu Fäusten. Ein Lächeln glitt über seinen Mund, dann kam er auf sie zu, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er blieb vor ihr stehen und nahm ihr Gesicht in beide Hände, ohne dass sich ihre Körper berührten. Liane bewegte sich nicht, aber sie wusste, wenn der Kuss nicht stimmen würde, wäre der Zauber dahin. Seine Lippen waren voll, aber nicht weich, und als er jetzt mit seiner Zunge ihren Mund öffnete, spürte sie ihn bis in die Zehenspitzen. Sie ließ ihn ein, und tastend erkundeten sie sich, bis er seine Zunge zurückzog und nach ihrer Hand griff.
»Komm.«
Sie gingen Hand in Hand und schweigend nebeneinanderher. Zwischendurch warfen sie sich Blicke zu, Liane forschend, weil sie seinen Gesichtsausdruck deuten wollte, er selbstbewusst, weil er seinen Plan kannte. Wo wird er hinwollen, fragte sie sich, in Richtung Klein-Venedig? Dort gab es neben dem Sea Life Aquarium nichts außer Wiese, einigen Bäumen und einem steinigen Ufer. Und weder Kiesel noch Wiese waren etwas für zehn Zentimeter hohe, dünne Absätze.
Wieder sah sie kurz zu ihm hinüber. Seine entschlossenen Gesichtszüge
Weitere Kostenlose Bücher