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Ich mach mir Sorgen, Mama

Titel: Ich mach mir Sorgen, Mama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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war im Gegenteil habgierig. Aber heute, mit hundertfünfzig, schaute ich zurück: Alle Schlüssel waren verrostet, das Fahrrad vor einer Ewigkeit geklaut, das Haus planiert. Gebt mir eine Krücke! Und die neue Ausgabe des Sachbuches Was fliegt denn da?. Ich würde von dieser Bank aus die Vögel beobachten, die Amseln und Rotschwänzchen. Ursprünglich »Waldbewohner, jetzt nur noch in alten Parkanlagen oder auf Friedhöfen zu finden, schwarze Kehle, weiße Stirn, oft als Einzelgänger gesichtet, manchmal aber auch in Scharen …«
    Sebastian hatte plötzlich Hunger. Wir verabschiedeten uns vom traurigen Florian und gingen in die Schönhauser Allee Arcaden zurück. Der Schönheitswettbewerb war immer noch nicht zu Ende.
    »Und jetzt die Nummer siebzehn, Annakarenina«, verkündete der Moderator. »Achtzehn Jahre alt, blondes Haar, Hobbys Fitness und Zeichnen.«
    In einem Café im obersten Stock bestellte ich mir ein Wasser, Sebastian bekam wie immer Spaghetti mit Ketchup, Fischstäbchen mit Ketchup und eine Portion Ketchup ohne alles, dazu noch Cola, Fanta, Eis und Kuchen mit Schlagsahne. Zum Glück konnte er die Speisekarte nicht lesen, sonst hätte er den Rest auch noch bestellt. Die Jugend war habgierig, frech und regelmäßig mit Ketchup verschmiert. Das Alter übte Verzicht. Endlich hatten sie unten die »Miss Prenzlauer Berg« gewählt. Sie ging auf einer Winkeltreppe an uns vorbei nach oben. Dort, zwischen dem Himmel und dem Einkaufszentrum, befand sich ein Fitnessstudio. Ich war noch nie da gewesen. Nur von meinem Balkon aus hatte ich schon mehrmals beobachtet, wie dort hinter den Schaufenstern die Frauen auf Fahrrädern schwitzten. Sie traten kräftig in die Pedale, kamen aber nicht vom Fleck. Ihre Fahrräder hatten keine Räder, sie hatten keine Bremse und keine Lichter hinten und vorne, nur eine Tafel, die nicht zurückgelegte Kilometer anzeigte und ihre Herzfrequenz maß.
    Sebastian wollte unbedingt die neue »Miss Prenzlauer Berg« kennen lernen.
    »Warte erst mal ab«, riet ich ihm. »Lass sie weitermachen. In einem Jahr ist das Mädchen vielleicht Miss Germany, dann Miss Europa. Eines Tages kommt sie als Miss Universum in die Schönhauser Allee Arcaden zurück, und dann werden wir auf sie warten: Darf ich vorstellen: Miss Universum – Sebastian, Sebastian – Miss Universum. Dürfen wir Sie zum Essen einladen, Fischstäbchen mit Ketchup, Spaghetti Bolognese?« Sebastian nickte, er war bereit zu warten. Ich allerdings hatte meine »Miss Prenzlauer Berg« schon längst gewählt. Eine nette Brünette, die jede Nacht um drei, wenn alle schliefen, nackt, das heißt, nur mit einem Tanga bekleidet, auf einem Fahrrad an unseren Fenstern vorbeifuhr. Ihre großen Brüste wippten. Sie war keine Fata Morgana. Meine Frau hatte sie auch schon mehrmals gesehen. Mein Nachbar auch. Fast das ganze Haus. Nur Sebastian nicht, weil die tagsüber tobende Jugend abends plötzlich furchtbar müde war und um neun schon schlief.

Ab in die Schule
    Ich gehe über die Schönhauser Allee. Links und rechts von mir sitzen entspannte Biertrinker in den zahlreichen Straßencafes. Einige kenne ich bereits, einige andere hätte ich jetzt zum Beispiel kennen lernen können. Sie winken mir zu, rufen: »He, Herr Kaminer, es ist Sommer, es ist warm, wo läufst du denn so eilig hin? Setz dich zu uns, trink ein Bier.« Ich winke ab. Fleißig und engagiert wie Pinocchio, gehe ich zum ersten Mal in die Schule, einem neuem Wissen entgegen, und keine Biertrinker werden mich von diesem Weg abbringen. Nur vom Alter her bin ich in diesem Märchen nicht Pinocchio. Ich bin sozusagen Meister Gepetto. In meiner Hosentasche liegt ein Brief:
    »Liebe Eltern unserer zwei neuen ersten Klassen, wir laden Sie herzlich zu Ihrer ersten Elternversammlung in die Aula ein. Mit Grüßen – Ihre Schulleiterin.«
    Ich komme zwar nicht zu spät, bin aber trotzdem der letzte der Eltern in der Aula. Alle anderen sitzen schon auf ihren Stühlen; sie halten Zettel und Stifte parat, um sich das Wichtigste zu notieren. Auch ich suche heftig in meinen Taschen nach Schreibwaren. Zigaretten, Feuerzeug, noch ein Feuerzeug, noch ein Feuerzeug … Die anderen Eltern gucken schon misstrauisch in meine Richtung, also packe ich alle meine sieben Feuerzeuge wieder ein. Ich hatte schon immer einen schlechten Start in der Schule.
    »Liebe Eltern, Sie sind sicher aufgeregt, das kann ich gut nachvollziehen«, eröffnet die Schulleiterin das Gespräch. »Das ist verständlich. Immerhin

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