Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
College-Abschluss; mein Brautbild in dem schulterfreien Kleid, das jetzt sorgfältig für Annabel aufbewahrt wird; ich mit dickem Kugelbauch, hochschwanger; ich als Strandhäschen – verdammt noch mal, ich habe im Bikini ja gar nicht so unmöglich ausgesehen, wie ich immer dachte. Da hätte ich genauso gut auch jeden Abend Nachtisch essen können. Wie heißt es auf diesen Kühlschrankmagneten?
Verzichte nicht aufs Dessert, das Leben ist kurz.
»Sie war hübsch«, bemerkt eine Brünette in hautengen schwarzen Wildlederhosen, »auch wenn man ihr den Mittleren Westen ansieht.« Wer ist denn diese Fremde, die es sich herausnimmt, gleich am ersten Nachmittag der Schiwe-Woche mein Aussehen zu kritisieren? Oh, anscheinend eine Freundin unserer Beerdigungssolistin, denn jetzt gehen die beiden gemeinsam zu Barry hinüber und umarmen ihn etwas zu lange.
»Mein herzliches Beileid, Dr. Marx«, haucht die Schwarze Wildlederhose und legt Barry eine Hand auf den Arm. »Ich bin Jennifer, Adriennes Schwester.«
Zu seinen Gunsten muss ich sagen, dass Barry das Gespräch nicht vertieft, auch wenn er vielleicht – ich bin mir nicht ganz sicher – seine Hand einen Augenblick auf Adriennes Hintern gelegt hat, nur einen kurzen Augenblick, aber auch das wäre zu lang. Mir fällt auf, dass er ein schmales schwarzes Band mit einem Riss am Revers trägt. Wenn er es richtig traditionell machen würde, müsste er sich den ganzen Beerdigungsanzug zerreißen, was allerdings eine Schande wäre. Denn auch wenn’s nur eine Kopie ist, teuer war das gute Stück trotzdem.
»Was für eine Verschwendung«, sagt Lucy. Ich weiß nicht, ob sie mein Leben, meinen Tod oder das Essen meint. Wahrscheinlich Letzteres, denn die Delikatessen, die Kitty hat auffahren lassen, bedecken gemeinsam mit den Gaben der Trauergäste jeden Zentimeter des Esstisches: ein Meer von kanadischem Räucherlachs und Barsch in Kapernsauce, eingelegte Heringe, Stör, Weißfischsalat, Frischkäse mit und ohne blässlich grünen Schnittlauch, und Bialys, Bagels und Babkas, mit Schokolade und auch mit Zimt. Sehr viele Babkas. Die alle mit endlos vielen Tassen starkem Kaffee heruntergespült werden. Kitty muss für diesen Anlass wohl Geschirr geliehen haben. Auf den Beistelltischen reihen sich glänzende Silberschalen, gefüllt mit Cashewnüssen, Schokoladentrüffeln und anderen Leckereien. Offensichtlich hat Kitty dafür gesorgt, dass Delfina und ihre Helferinnen alles auf Hochglanz polieren. In der Hinsicht war ich immer eher nachlässig. Tja, Fehler Nr. 51.
Um vier Uhr nachmittags sind über hundert Gäste da. Die Leute lassen ihre Mäntel auf einem Ständer unten in der Eingangshalle. An unserer Wohnungstür nimmt Delfinas Schwester, heute statt in ihrer üblichen strassbesetzten Jeans in einem würdigen schwarzen Kleid, mit ernster Miene die mit rotem Band umwickelten Gebäckschachteln entgegen. Würde man alles aneinanderreihen, wärenjetzt schon genug Rugelach da, um damit die Straße bis nach Scarsdale zu pflastern. Durch den Serviceeingang kommen immer wieder Boten in die Küche und liefern mit farbigen Plastikfolien geschützte Platten voll kunstvoll angerichteter Sandwiches und Bergen von frischen und getrockneten Früchten. »Manhattan Fruitier« sollte mir ein Dankbriefchen schreiben, auch wenn ich nicht ganz verstehe, warum man dort meint, Hinterbliebene hätten ein heftiges Verlangen nach unreifen Papayas. Und eins weiß ich jetzt schon: Meine praktisch veranlagte Mutter und Schwester werden letztlich bei City Harvest nachfragen, ob sie dort für die Obdachlosentafeln auch private Lebensmittelspenden annehmen.
»Molly würde diese Party gefallen«, sagt Brie, die gerade eine mit weißer Schokolade überzogene Brezel teilt und die eine Hälfte Isadora reicht. Tatsächlich, genau das scheint es geworden zu sein, eine Party. Um halb sechs brechen einige Gäste auf, doch um acht, als Rabbi Strauss Sherman eine kurze Andacht hält, sind sie in dreifacher Anzahl wieder da.
Nach den Gebeten ist Annabel endgültig erledigt. Meine Eltern bringen sie zu Bett, mit dem Hasen Alfred im Arm und dem Daumen im Mund, obwohl sie das eigentlich schon seit über einem Jahr nicht mehr tut. Ihre ernst dreinblickenden blauen Augen fallen ihr innerhalb einer Minute zu.
Mein Geist setzt sich neben sie und umfasst mein kleines, mutterloses Kind. Mit all meinen seltsamen Kräften versuche ich, ihr einen Traum von uns beiden einzugeben, damit sie spürt, wie sehr ich sie liebe. Ich
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