Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
als wäre sie ihr eigen Fleisch und Blut. Sie bürstet ihr Kletten aus dem Haar, trocknet ihre Tränen und bringt sie sogar dazu, wegen der gesunden Vitamine und Mineralien Spinat zu essen. Delfina kann Werbepost einfach verschwinden lassen, den Tisch wie für die First Lady decken und versorgt die geschrumpfte Familie Marx stets mit Apfelsaft, Butterkeksen und Erdnussbutter. Nur Putzen ist nicht ihr Ding und wird glücklicherweise auch nicht von ihr erwartet, denn zweimal die Woche erscheinen die »Perlen«, ein ganzes Bataillon umweltfreundlicher Heinzelmännchen, mit tanzenden Wischmops und hellgrünen, garantiert nicht krebserregenden Putzmitteln.
Alle Keime, Schlieren und Flecken sind verschwunden aus dieser Wohnung. Mein Tod liegt schon Monate zurück. Ich bin allerdings immer noch da und sehe verwundert, dass Delfina geradezu zärtlich meinen Sekretär poliert. Als wollte sie seinen zweihundert Jahre alten Körper massieren, reibt sie mit einer aussortierten weichen Serviette über das Holz. Ich atme tief den Limonenduft der Politur ein, ein Aphrodisiakum, das Frauen zur Hausarbeit verführen soll. Nach einigen Minuten tritt Delfina einen Schritt zurück, stemmt die Hände in die Hüften und betrachtet zufrieden das Resultat ihrer Bemühungen. Ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den warmen braunen Augen spiegelt sich in dem glänzenden Mahagoni.
Delfina öffnet die Doppeltüren des Aufsatzes. »O Gott«, ruft sie laut. »Die Missus hatte wirklich ein Talent für Unordnung.«
Außen hui, innen pfui – ich geb’s ja zu. Die schmalen Borde biegen sich unter unbezahlten Rechnungen und Briefumschlägen, vielen Briefumschlägen. Und die kleinen Schubfächer sind vollgestopft mit Kugelschreibern – nur schwarze, keine anderen –, alten Taschenkalendern, einem abgelaufenen Reisepass, Weihnachtskartenmit Fotos von Freunden (»Schöne Feiertage! Gruß und Kuss, die Cohens und Mugsy«) und eselsohrigen Visitenkarten sowie jeder Menge 3 9-Cent -Briefmarken, einem Maßband (ach,
hier
ist das) und seltsamerweise einer dunkelroten Feder.
Delfina stößt einen Pfiff aus. »Okay, Dr. Barry sagt, ich soll ausräumen.« Sie sieht auf die Uhr auf dem Nachttisch. Viertel nach zehn. »Wird nicht allzu lange dauern«, sagt sie, um sich selbst Mut zu machen. Ein überfälliges Buch aus der Bücherei legt sie zur Seite, und dann beginnt sie, den offensichtlichen Müll auszusortieren. In einem Pappkarton, den sie extra von der letzten Lebensmittel-Lieferung aufbewahrt hat, verschwinden halb ausgefüllte Zeitschriftenabos, Bündel verblichener Quittungen und eine Werbeanzeige für Opernkarten zu 20 Dollar. Verdammt, warum habe ich da nicht zugegriffen? Jahrelang wohnte ich nur fünfundzwanzig Blocks vom Lincoln Center entfernt, und ich habe nicht ein einziges Mal auch nur ›Madame Butterfly‹ gesehen.
Ich denke gerade an all die Dinge, die ich noch tun wollte – Tango tanzen, Sauerteigbrot backen, mich bei Habitat for Humanity engagieren, an die kroatische Küste reisen –, als ich ihn plötzlich sehe: einen blasslila Briefumschlag, sorgfältig mit Wachs versiegelt, als käme er von einer europäischen Adligen aus dem 19. Jahrhundert. Delfina greift mit ihrer schlanken, manikürten Hand nach dem Brief und befördert ihn schwungvoll direkt auf den großen Haufen, wo er mit der Adressseite nach oben landet.
An meine geliebte Annabel
steht in meiner schrägen Handschrift darauf. Ein Graphologe hat mir mal allein wegen meiner »Ps« und »Bs« ein alarmierend geringes Selbstbewusstsein bescheinigt, doch bei diesem Brief habe ich mir große Mühe gegeben. Jeder Buchstabe ist sorgsam ausgeschrieben und pulsiert nur so von Persönlichkeit – hoffe ich wenigstens.
Delfina muss zweimal hinschauen. »O Gott, was ist denn das?« Sie runzelt die Stirn und hebt den quadratischen Briefumschlag ans Licht, als könnte eine 7 5-Watt -Glühbirne ihr all seine Geheimnisse verraten. Doch das schwere Papier bleibt stumm.
Reglos steht Delfina da, der Schweiß bricht ihr aus, und sie sieht sich im Zimmer um, ob sie auch wirklich allein ist. Dann zieht sie ein Handy aus der Tasche und ruft Narcissa an. »Kannst du reden?«, flüstert sie.
»Klar«, erwidert Narcissa. Im Hintergrund läuft die schlimmste Kochshow der Welt, wie ich deutlich hören kann. Und so muss ich, ein Gründungsmitglied des Rachael-Ray-Hass-Komitees, es ertragen, dass diese Maulheldin fünfzehn Zutaten für 3 0-Minuten -Hamburger herunterrattert.
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