Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
Wer glaubt, das Leben sei fair, sollte mal bedenken, dass ich hier in der Ewigkeit hocke, während die Rachael Rays dieser Welt nicht totzukriegen sind. Doch jetzt schaltet Narcissa zum Glück den Fernseher aus.
»Hier ist ein Brief, den die Missus versteckt hat.«
»Oh, oh, oh, oh, oh«, sagt Narcissa. »Na so was, nach all der Zeit.«
»Was soll ich tun?« Delfina flüstert immer noch.
»In den Briefkasten werfen?«
»Es ist so ein Brief, den man einfach wem gibt.«
»Dann mach ihn auf! Lies laut vor!«
»Das kann ich nicht – das ist nicht richtig.« Delfina lebt nach den Grundsätzen ihrer Kirche. Daran wurde ich mit schöner Regelmäßigkeit erinnert, wenn sie mich wieder mal nötigte, ein Kirchen-Tombola-Los zu kaufen. Einmal habe ich ein Gratisessen in einem karibischen Restaurant in Brooklyn gewonnen. Ausgezeichnetes Hähnchen. Das Lokal gehörte dem Sohn ihres Pfarrers, und wie auf dem Familienfoto an der Wand zu sehen war, besucht Delfinas Pfarrer Steinreich denselben Friseur wie der berüchtigte Prediger Al Sharpton.
»Für wen ist der Brief denn? Für Dr. Barry? Für einen heimlichen Geliebten?«
Hat eigentlich jeder geglaubt, dass ich einen Geliebten hatte?
»Nein, für Annabel.«
»Aber die Kleine kann ja gar nicht lesen. Du musst ihn sowieso vorlesen.« Ella dagegen kann nicht nur Briefe, sondern schonganze Bücher lesen, wie Narcissa nie zu erwähnen vergisst. »Da musst du –«
Wie fast alle karibischen Haushälterinnen in unserer Gegend wird Narcissa dank ihrer Überredungskünste besser bezahlt als jede Redaktionsassistentin in Manhattan und die meisten Anwälte.
Doch Delfina lässt sich nicht so schnell überzeugen. »Ich finde nicht, dass
ich
diesen Brief aufmachen darf.«
Dafür würde Gott mich strafen,
höre ich sie denken.
»Was willst du dann damit machen?«
Delfina sieht noch mal auf die Uhr – es ist fast elf. Sie geht zu Plan B über. »Ich melde mich wieder«, sagt sie, legt auf und tut den Brief zu ihrer Bibel, die sie in ihrer großen Handtasche hat, die wiederum jeden Tag ordentlich im Garderobenschrank verstaut wird. Nachdem der kleine Moses sicher im Weidenkorb liegt, räumt sie weiter den Sekretär auf – sehr aufmerksam. Wer weiß, was sie noch finden könnte? Ein Lotterielos mit einem Hauptgewinn vielleicht? Die Handtasche geht sie regelmäßig kontrollieren.
Ich betrachte den Briefumschlag und erinnere mich wieder an alles.
Mit einigem Stolz kann ich sagen, dass es in meinem Leben Gelegenheiten gab, bei denen ich Sinn fürs Wesentliche bewiesen habe. Dies war so ein Fall. Da ich diesen Brief nicht einfach in mein Notebook tippen und dann ausdrucken wollte, ging ich in einen Schreibwarenladen. Als die Verkäuferin mir ein Briefpapier in der Farbe »Kosmisches Lavendelblau« zeigte, war’s um mich geschehen, und ich kaufte gleich hundert Blatt auf einmal, mit einem verschnörkelten weißen Monogramm. Und dann setzte ich mich an meinen Sekretär hier, hob den Deckel der marineblauen Schachtel, nahm einen Briefbogen heraus und schrieb langsam den Text ab, den ich eine ganze Woche lang immer wieder überarbeitet hatte. Im Aufsatzschreiben hatte ich in der Schule nie die besten Noten erzielt, doch ich hatte ausgedrückt, was ich sagen wollte.
Meine geliebte Annabel,
begann ich.
Wenn Du diesen Brief liest, wird es einige Dinge geben, die Du richtig verstehen sollst …
Delfina versucht, den Tag so zu gestalten, als wäre es ein ganz gewöhnlicher. Sie geht mit Annabel die Schmetterlinge im Museum für Naturgeschichte ansehen und kocht bunte Wagenrad-Nudeln zum Abendessen. Während meine Tochter badet, liest sie ihr aus ›Madeleine‹ vor und steckt sie schließlich ins Bett. Um Viertel nach acht zieht Delfina sich in ihre Schlafkammer neben der Küche zurück, die sie regelmäßig benutzt, seit meine Arbeit mit Luke mich um den halben Globus führte. Die Wände haben wir gemeinsam gestrichen, in einer Farbe, für die Delfina sich erst nach reiflicher Überlegung entschieden hat: ein rauchiges Pflaumenblau, das – rätselhafterweise – »Beschaulicher Nachmittag« hieß. Vielleicht hat Delfina sie ausgesucht, weil es davon in ihrem Leben so wenige gab. »Ist der Maler in Traubengelee gefallen?«, fragte Kitty, als sie die Wände sah. Doch ich habe Delfina für die Wahl dieser Farbe immer bewundert, und für so vieles mehr. Wenn Annabel ihren Kopf in diese verborgene Kammer mit den gestärkten weißen Organzagardinen steckt, die knistern wie die
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