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Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Titel: Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Koslow
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»Kannst du ein Geheimnis für dich behalten? Wenn du in den Kindergarten gehst, werden wir danach mit deiner Freundin Ella in die Columbus Bakery essen gehen. Eigentlich sollte das ja eine Überraschung sein.«
    Ein flüchtiges Lächeln huscht über Annabels Gesicht, und suchend sieht sie sich im Zimmer um. Sie fängt den Blick ihrer besten Freundin auf, die bereits im Spielhaus ist. Kaum hat Ella Annabel entdeckt, rennt sie auf ihren stämmigen Beinen auch schon quer durchs Zimmer. »Annabel!«, ruft sie. »Ich backe Pizza. Komm.« Die größere Ella ragt neben meiner Tochter auf, und ganz der Tradition »Anatomie als Schicksal« entsprechend hält sie sich für die ältere und klügere der beiden, die jetzt verantwortlich ist für ihre Freundin, deren Mutter am Fluss gestorben ist wie eine der Figuren in diesen gruseligen Märchen der Brüder Grimm, die ihr Vater ihr nicht mehr vorlesen darf.
    »Bis später, Kleine«, sagt Delfina zu Annabel und nimmt sie in die Arme.
    »Bis bald, Große«, sagt Annabel. Einer ihrer lilafarbenen Fäustlinge fehlt, aber sie hängt ihre leuchtend rote Jacke mit dem Pelzbesatz in ihr Schränkchen, in dem ein Bild der Familie hängt – Barry, ich und Annabel als zahnloses Baby. Jede ihrer Bewegungen ist anmutig, fließend, präzise. Hoffentlich erinnert sich Barry daran, dass ich sie zum Ballett anmelden wollte. Sie wäre wie geschaffen für die Klara im ›Nussknacker‹.
    »Ich bin die Mommy«, sagt Ella, »und du bist die Tochter.« Sie spielen, bis die Kindergärtnerin alle achtzehn Kinder auffordert, sich zum Morgenkreis zusammenzufinden. Annabel setzt sich mit den anderen in die Mitte des Zimmers.
    »Guten Morgen, Kinder«, sagt die Kindergärtnerin.
    »Guten Morgen, Miss Rose«, antworten die Kinder im Singsang.
    »Lasst uns darüber sprechen, was wir an diesem Wochenende gemacht haben«, sagt Miss Rose. »Wer hat denn etwas Interessantes erlebt?« Ein Mädchen meldet sich. »Emily?«
    »Ich habe ›Shrek‹ gesehen«, erzählt Emily.
    »Ich auch«, rufen einige andere.
    »Kinder, wir warten, bis wir aufgerufen werden, das wisst ihr doch.« Ein Junge wedelt mit der Hand, als würde er ein Orchester dirigieren; mit seiner wilden Lockenpracht sieht er tatsächlich aus wie eine Miniaturausgabe von Simon Rattle. Miss Rose zeigt in seine Richtung.
    »Meine Wüstenrennmaus ist gestorben«, erzählt er.
    »Letzten Monat wurde unser Hund eingeschläfert«, sagt ein anderer Junge. »Er hatte schlimmen Krebs in seinem Körper drin.«
    Ich konzentriere mich ganz auf Annabel und versuche, ihren Schmerz aufzusaugen. Was wird sie sagen oder tun? Doch Annabel tut   … nichts. Sie sieht aus dem Fenster und betrachtet die im strahlenden Morgensonnenschein flirrenden Staubpartikel in der Luft. Ein paar Kinder drehen sich zu ihr um, doch Miss Rose ruft als Nächste Ella auf. »Ich durfte bei meinem Babysitter bis elf Uhr abends aufbleiben.«
    Auf dem Flur sind Geräusche zu vernehmen. Eine Mutter und ihr Kind kommen zu spät. »Küsschen, Küsschen, Jordan«, sagt die Frau zu ihrem Sohn, einem dünnen Kind mit traurigen, tiefliegenden blauen Augen und krausem rotem Haar, das raspelkurz geschnitten ist. Die Mutter ist eine Brünette mit sehr vielen Strähnchen im Haar, sehr langen Zähnen, sehr langen Fingernägeln und sehr hohen Absätzen. »Gib Mommy ein Küsschen zum Abschied.« Ich höre genauer hin. Diesen nasalen Tonfall kenne ich doch.
    Stephanie.
    Ich werfe noch einen langen Blick auf Annabel, doch obwohl ich bei ihr verweilen und ihr zusehen möchte, kann ich nicht widerstehen, die Frau unter die Lupe zu nehmen, die meinen Mann jeden Abend so wortreich zu Bett bringt. Ich betrachte sie genauer. War Stephanie eine jener mir unbekannten Trauernden, die sich auf meiner Beerdigung so wirkungsvoll die verlaufene Mascara vom Gesicht gewischt haben? Doch sie kommt mir nur vage bekannt vor, eins der vielen Gesichter, die ich im Umkreis des Kindergartensgesehen habe, wenn ich auf mein eigenes Kind wartete. Ihr Sohn geht ins Zimmer seiner Gruppe, und sie läuft zum Fahrstuhl zurück.
    Unten trifft Stephanie auf eine andere Frau, eine, die anscheinend zu oft ›Vertigo‹ gesehen hat. Diese Freundin hat ihr platinblond gefärbtes Haar in einem strengen Knoten hochgesteckt, und ihr eng geschnittener grauer Gabardinerock und das Jackett erinnern an 1958.   Sie ist attraktiv mit ihrem Porzellanteint und den sorgfältig geschminkten roten Lippen. Obwohl es draußen frisch ist, gehen die beiden

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