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Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Titel: Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Koslow
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ich, wenn sie ein Baby bekäme? Sich auf den Boden hocken, jeden k. o. schlagen, der ihr Schmerzmittelverabreichen wollte, umgehend ein sechs Pfund schweres Kind entbinden und danach einen Halbmarathon laufen? Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, mit meiner Titanenschwester zu reden. Nach dem vierten Klingeln hob sie ab.
    »Lucy?«, sagte ich.
    »Molly, hast du eine Ahnung, wie spät es hier ist?«, krächzte sie. In Chicago war es 5.35   Uhr, und Lucy gehört nicht zu den Leuten, die aufstehen und sofort gut gelaunt sind.
    »Tut mir leid«, sagte ich. »Aber ich glaube, ich kriege das Baby.«
    »Das kommt nicht völlig unerwartet.« Eine lange Pause folgte. »Und?«
    »Und ich bin ganz allein«, schniefte ich, während ich mir die Tränen mit dem Ärmel aus dem Gesicht wischte. »Stell bloß keine Fragen. Was soll ich tun?«
    »Mann, was habe ich nur gestern Abend geraucht? Bitte sag mir, dass ich bloß träume.«
    »Ganz ehrlich, Luce, ich habe Wehen. Meine Ärztin will, dass ich ins Krankenhaus komme.« Ich begann zu wimmern. »Barry ist unauffindbar. So war das alles nicht geplant.«
    »Hör zu, und stell dich nicht so dämlich an«, sagte sie, jetzt völlig Herrin der Lage. »Nimm ein Taxi und fahr ins Mount Sinai. Es sei denn, du legst Wert darauf, von eurem Pförtner entbunden zu werden.«
    »Okay«, erwiderte ich. »Du hast recht.« Meine Schwester, die gute Lehrerin, hatte gesprochen. »Okay.«
    »Herrgott, wenn ich bloß da sein könnte«, rief sie. »Wo ist dieser Drecksack von einem Ehemann, Molly? Nein, sag mir nichts. Ich will es gar nicht wissen. Ruf Brie an. Sie soll zu dir kommen.«
    »Brie anrufen«, wiederholte ich mechanisch.
    »Sie soll mich anrufen!«, rief Lucy noch, als ich schon auflegte.
    Ich holte tief Atem. »Guten Morgen«, sagte ich zu Brie. Solange sich keine Wehe wie ein stählernes Band um meinen Unterleib zog, klang ich beinahe normal. »Könntest du zu mir ins Krankenhaus kommen?«
    »Was ist los?«, fragte sie hellwach, denn sie hatte zweifellos schon das ›Wall Street Journal‹ gelesen, einen Orangensaft getrunken sowie ihr morgendliches Fitnesstraining absolviert.
    »Nichts, vermutlich«, sagte ich, denn ich hoffte, es wäre nichts. Aber dieses »Nichts« verursachte mir in immer regelmäßigeren Abständen Schmerzen, so stechende Schmerzen, als wollte mir jemand meine inneren Organe mit einer Spitzhacke herausreißen. »Barry ist bei einem Notfall«, log ich, »und ich möchte einfach nur, dass du mir die Hand hältst, ja? Ich glaube sowieso, es ist falscher Alarm.«
    »Verstanden«, sagte Brie. »Wir sehen uns im Sinai.«
    Ich kratzte meine letzten Reserven zusammen, hinkte aus dem Eingang unseres Apartmentblocks und hielt ein Taxi an. Was nicht schwer war. Eine Frau von walartigen Ausmaßen, die am frühen Morgen an einer Straßenecke wild mit den Armen rudert, hat gute Chancen, einen Fahrer auf sich aufmerksam zu machen. Und offenbar war ich auch nicht die erste verängstigte schwangere Patientin, die das medizinische Personal ohne Begleitung ins Krankenhaus taumeln sah. Innerhalb weniger Minuten hatte man mich anhand meiner Versicherungskarte identifiziert, in einen Krankenhauskittel gesteckt und mir erklärt, dass mein Muttermund sich sechs Zentimeter weit geöffnet habe. Als Brie eintraf, war ich von Krankenhausengeln umgeben und angeschlossen an alle möglichen piependen Star-Wars-Maschinen. Zwischen den Wehen dekorierte ich im Geiste den Kreißsaal neu: mit himmelblauem Anstrich und Orchideen. An Barry zu denken weigerte ich mich.
    Brie an der Seite zu haben würde mir guttun, hatte ich gedacht, doch bei jeder meiner Wehen verkrampfte sich ihre Mundpartie, als würde ihr ohne Betäubung ein Weisheitszahn gezogen. Ständig schrie sie auf: »Oh! Tut es weh? Tut es sehr weh? Herrje, das war aber schlimm. Puh, jetzt ist es vorbei. Wir können uns entspannen.« Das heißt,
sie
hätte sich entspannen können. Doch sie tat es nicht. Brie war ein hoffnungsloser Fall. Sie würde reif sein fürs Sanatorium, wenn das Baby endlich da war.
    Eine Stunde verging. Zwei. Dann verlor ich jedes Zeitgefühl. Der Schmerz kam wieder und wieder, als würde auf dem Wetterkanal dauernd ein Bericht über einen Hurrikan wiederholt. An Barry dachte ich schon lange nicht mehr. Was hätte er auch tun sollen? Mir Schuldgefühle machen, dass unser Baby drei Wochen zu früh zur Welt kam und seinen Operationsplan durcheinanderbrachte?
    Ich versuchte Stolz zu empfinden. Molly Marx, die ein

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