Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
Marx«, sagte Luke, nachdem die Sonoma-Fotos gekommen waren, »denn dank deiner guten Arbeit haben wir einen Auftrag in Bridgehampton und danach in Nantucket und dann einen hier in der Stadt.«
»Dank
unserer
guten Arbeit«, korrigierte ich und schrieb mir mit zitternder Hand die Termine auf.
Seit fünf endlosen Tagen und vier schlaflosen Nächten war ich aus Kalifornien zurück. Luke nahm allen Raum in meinen Gedanken ein. Ich hatte unsere Liebesszene auf dem Weingut so oft durchgespielt, dass ich auch für den anspruchsvollsten Regisseur ohne weiteres den weiblichen und auch den männlichen Part hätte nachspielen können. Dies war unser erstes Gespräch nach Sonoma. Wie es jetzt weitergehen sollte, wusste ich nicht, zumindest solange ich nüchtern und bei klarem Verstand war – was ich zu bleiben gedachte.
Luke senkte die Stimme zu einem Murmeln. »Bereust du irgendwas?«
Er etwa? Wenn Luke irgendwas bereute, würde ich alle Aufträge, die ich gerade erst notiert hatte, sofort wieder aus meinem Kalender streichen.
»Molly, bist du noch dran?«
»Ob ich etwas bereue?« Ach, zum Teufel, ich würde die Wahrheit sagen. Warum sollte ich mich nicht mal wie eine Kurtisane im 18. Jahrhundert fühlen? »Nein, nichts.« Ein Wort wie »Liebling« wollte mir dann doch nicht über die Lippen kommen. »Und du?«
Luke antwortete, ohne zu zögern, obwohl er von mir sicher gern eine ausführlichere Antwort gehört hätte. »Mir hat in meinem ganzen Leben noch nie etwas weniger leidgetan. Mein schönster Tag in den letzten zehn Jahren.«
Ich schwieg.
»Was hältst du von einem gemeinsamen Mittagessen?«
»Viel«, erwiderte ich und versuchte, wie eine Frau zu klingen, für die nicht mehr auf dem Spiel stand als ein Cobb-Salat. »Gern.«
»Bei mir«, fügte er hinzu. Der klassische Auftakt zu jeder verbotenen Beziehung. »Wann hast du Zeit?«
Ich wollte mich nicht festlegen. Ich wollte, dass er fragte: »Tref fen wir uns morgen zum Mittagessen?« Darauf hätte ich geantwortet, dass mir das leider nicht passte, weil Annabel da eine Verabredung zum Spielen hatte. Ein weiterer Tag sehnsüchtigenVerlangens aus der Ferne. Das wäre viel einfacher gewesen und hätte mir das Schuldgefühl genommen, das ich neben dem sexuellen Begehren, der Spannung und, ja, schlichter Neugier empfand. Doch leider war Luke sehr flexibel. Was zu bedeuten schien, dass es da ein
Wir
gab. Und was aus diesem attraktiven Paar werden würde, wollte ich natürlich auch wissen. Ich schaffte es nicht, zu rufen: »Oh, tut mir furchtbar leid, aber eben fällt mir wieder ein, dass ich vor Hunderten von Leuten einen Treueid abgegeben habe, und vor einem Rabbi, der nicht nur Tausende Jahre jüdischer Geschichte repräsentiert, sondern auch den Bundesstaat Illinois, und vor dem Mann, der mir vielleicht nicht treu, der aber trotzdem mein Ehemann ist. Nein, Sir, ich kann mich nicht mit Ihnen zum Mittagessen treffen. Nicht mal eine Pepsi ist drin.«
Also verabredeten wir uns für die nächste Woche.
Auf dem Weg zu Lukes Apartment machte mein Magen seltsame Hüpfer, woran nicht nur die Schlaglöcher auf den Straßen schuld waren. Der Taxifahrer hielt vor der Adresse, die ich ihm genannt hatte, ein vierstöckiges Kalksteingebäude in einer der eher unschönen Straßen im East Village. Auf dem Gehweg lag Müll, und einen Pförtner hatte das Haus nicht. Als eine Frau heraustrat, schlüpfte ich hinein. Die Eingangshalle hatte einen fleckigen Terrazzoboden und schwarze Marmorwände. Wäre das hier ein Foto in einer Zeitschrift gewesen, hätte der Titel »Verblichene Pracht« gelautet. Der alte schmiedeeiserne Aufzug rumpelte im Zeitlupentempo aufwärts, ein wandernder Messingpfeil zeigte die Stockwerke an. Ich hatte das Gefühl, er könnte jeden Moment mein Herz durchbohren.
Vor ein paar Monaten war Luke von Greenwich Village hierher in die Lower East Side gezogen. Ich hatte von tollen, zwischen Schlossereien und schmuddeligen Bodegas eingeklemmten Boutiquen gehört und wusste, dass es in dem Viertel unzählige Bistros geben sollte, die eine Fusion-Küche jenseits der üblichen französisch-vietnamesischen Variante anboten – vielleicht japanischguatemaltekisch,israelisch-palästinensisch? Jedenfalls wurden wegen dieser kulinarischen Kreativität die Sterne-Restaurants im spießigeren Midtown immer leerer, vor allem an den Wochenenden. Dennoch war die Lower East Side auf meiner eigenen Karte von Manhattan so etwas wie der Balkan,
terra incognita
.
Und dann
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