Ich muss dir etwas sagen
berichten Ihrer Frau also über das Klassentreffen, aber Sie erzählen nicht buchstäblich, was geschehen ist, sondern Sie äußern sich virtuell.
Virtuelle Äußerungen in der Praxis
So könnte dieser Mann seiner Frau - genügend Zeit für die
Aussprache vorausgesetzt - in etwa sagen: „Liebling, ich muß dir etwas erzählen. Weißt du, bei diesem Klassentreffen sind mir allerlei Dinge durch den Kopf gegangen. Ich dachte daran, wie es damals war, als wir noch verliebt waren - unsere große
Leidenschaft und so. Eine ganze Reihe meiner
Klassenkameraden ist inzwischen wieder geschieden. Ich
möchte dich daher um etwas bitten. Ich glaube, wir halten unser Zusammensein zu sehr für selbstverständlich, und romantisch
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sind wir auch schon lange nicht mehr. Also, wenn du
einverstanden bist, möchte ich dich bitten, gemeinsam mit mir daran zu arbeiten, wieder ein bißchen mehr Romantik in unser Leben zu bringen. Ich weiß nicht, ob ich darin so gut bin, und will dir auch nicht die Verantwortung zuschieben, aber vielleicht kommen wir ja gemeinsam weiter. Ich will einfach nicht, daß wir verlieren, was wir in all den Jahren aufgebaut haben. Wollen wir darüber reden, wie wir das ein wenig ändern können?”
Wissen, welche Reaktion man anstrebt
Auch wenn Sie eine Wahrheit virtuell äußern, müssen Sie
vorher bestimmen, in welche Kategorie sie gehört. Der Mann im letzten Beispiel entschloß sich zu einer Bitte. Er hätte sich aber durchaus auch entscheiden können, seiner Frau etwas über seine Gefühle zu sagen, sie zu kritisieren oder ihr etwas sehr
Persönliches zu enthüllen. Es hängt alles von der Reaktion ab, die er sich wünscht: „Ich lasse mich darauf ein” (eine Bitte vortragen), „Ich verstehe, wie du dich fühlst” (Gefühle äußern) oder „Ich will versuchen, mich zu ändern” (Kritik anbringen).
Indem er sich virtuell mitteilte, hat dieser Mann einiges
erreicht. Er hat klargemacht, daß seine Beziehung für ihn ein Ort ist, an dem Menschen einander die Wahrheit sagen, ohne sich unnötig zu verletzen. Statt seine Frau mit Aussagen
aufzuwühlen, mit denen sie nichts anfangen kann, hat er ihr etwas gegeben, was beiden weiterhilft. Und statt ihr ein
(sicherlich wahres) Detail zu erzählen, das sie ziemlich verletzt und vollkommen abgelenkt hätte, sagte er ihr Wahrheiten, mit denen sie umgehen konnte, und kam zum Kern der Sache.
Die Wahrheit, die er äußerte, war aufs innigste mit jener
Wahrheit verknüpft, die er ihr gegenüber nicht bekennen konnte, und genau das ist der springende Punkt virtueller Äußerungen.
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Virtuelle Äußerungen am Arbeitsplatz
Wenden wir uns noch einmal dem anderen Beispiel zu, dem
überarbeiteten Mann. Er kann seine Wahrheit, daß er es einfach nicht mehr schafft und kurz vor dem Kollaps steht, nicht
erzählen. Aber er kann sich selbst fragen, auf welches Bedürfnis seine Wahrheit hinweist: „Was brauche ich?” Das ist eine der schwierigsten Fragen, die wir uns überhaupt stellen können. Wir empfinden den Schmerz oder das Unbehagen deutlich, aber was wir brauchen, um es wieder loszuwerden, ist manchmal schwer auszumachen.
Um ein solches Bedürfnis aufzuspüren, heißt es geduldig
vorzugehen wie ein Detektiv. Angenommen, Sie wären der
Mann aus diesem Beispiel, und die Wahrheit, die Sie nicht
äußern können, lautet, daß Sie die Arbeitsbelastung nicht länger ertragen. Sie müssen also zunächst dafür sorgen, daß Ihr Chef Ihnen weniger Arbeit aufhalst, ohne jedoch zu ihm hinzugehen und zu sagen, daß Sie weniger arbeiten möchten. Sie überlegen also, wie Sie es virtuell äußern können.
Sie brauchen etwas, das die Arbeitsbelastung senkt. Was
könnte das sein? Was würde Sie wirkungsvoll entlasten? Wäre ein persönlicher Assistent die Lösung? Brauchen Sie mehr
Mitarbeiter in Ihrer Abteilung? Oder lassen sich die Aufgaben so organisieren, daß Sie einen Teil Ihrer Verantwortung an eine andere Abteilung delegieren können (natürlich der größeren Effizienz wegen, versteht sich)? Vielleicht würde eine
drastischere Maßnahme helfen, ein Transfer zum Beispiel.
Möglicherweise ist Ihr Chef jedoch derart unzugänglich, daß Sie sich schleunigst einen neuen Job suchen sollten, und was Sie dann wirklich von ihm brauchen, sind gute Referenzen.
Sie müssen den Rahmen Ihrer Bedürfnisse ganz genau
abstecken - wenn Sie dazu einen Freund oder anderen Ratgeber brauchen, sollten Sie sich dessen Meinung unbedingt holen.
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