Ich schreib dir morgen wieder
empfinden. Meine Welt war vollkommen aus den Fugen, ich wusste nicht mehr, wo ich hingehörte.
Schwester Ignatius stand auf und legte sanft die Hand auf Mums Kopf, während Mum sich bemühte, ihre Tränen zu trocknen. Aber ich konnte sie nicht anschauen, und so folgten meine Augen ganz automatisch Schwester Ignatius, die nun langsam zur anderen Seite des Zimmers hinüberging. Dort öffnete sie einen Schrank, holte etwas heraus und kam wieder zu mir.
»Hier. Das wollte ich dir schon seit langem geben«, sagte sie, und auch ihre Augen waren voller Tränen. Sie überreichte mir ein hübsch eingepacktes Päckchen.
»Schwester Ignatius, ich bin wirklich nicht in der Stimmung für Geburtstagsgeschenke. Immerhin hat meine Mum mir gerade gesagt, dass sie mich mein ganzes Leben lang angelogen hat«, entgegnete ich giftig. Mum verzog das Gesicht, nickte langsam und nahm den Vorwurf wortlos zur Kenntnis. Am liebsten hätte ich noch nachgelegt, denn jetzt war doch eine gute Gelegenheit, ihr all das an den Kopf zu werfen, was mich jemals an ihr genervt hatte – wie ich es auch immer getan hatte, wenn ich mit Dad Streit hatte. Aber ich riss mich zusammen. Ich dachte an die Konsequenzen. Das Tagebuch hatte mir also doch etwas beigebracht.
»Mach es auf«, sagte Schwester Ignatius ernst.
Ich riss das Papier auf, und eine Schachtel kam zum Vorschein. In der Schachtel war ein zusammengerolltes Dokument. Ich sah Schwester Ignatius fragend an, aber sie gab keine Erklärungen ab, sondern kniete schweigend neben mir, die Hände gefaltet, den Kopf geneigt wie zum Gebet.
Ich rollte das Dokument auf. Es war eine Taufurkunde.
Diese Taufurkunde bezeugt, dass
Tamara Kilsaney,
geboren am 24. Juli 1991 in Kilsaney Castle, County Meath,
am heutigen Tag,
dem 1. Januar 1992,
voller Liebe
von ihrer Mutter Jennifer Byrne
und ihrem Vater Laurence Kilsaney
der Gemeinde vorgestellt und
durch die Taufe
in den Kreis ihrer Mitmenschen aufgenommen wurde.
Sprachlos starrte ich auf das Papier. In der vagen Hoffnung, dass meine Augen mich getäuscht hatten, las ich es immer wieder von vorn. Denn ich wusste nicht, wo ich mit meinen Fragen beginnen sollte.
»Tja, dann fange ich mal an«, sagte ich schließlich. »Erstens ist das Datum falsch.« Ich versuchte, selbstbewusst zu klingen, aber es hörte sich nur erbärmlich an, und ich wusste es. Mit Sarkasmus kam ich hier nicht weiter.
»Es tut mir leid, Tamara«, sagte Schwester Ignatius.
»Deshalb haben Sie immer gesagt, ich wäre siebzehn.« Ich dachte zurück an unsere Gespräche, und mir wurde einiges klar. »Aber wenn das hier richtig ist, dann werde ich heute achtzehn … Marcus!« Ich sah zu Schwester Ignatius. »Und Sie hätten ihn tatsächlich ins Gefängnis gehen lassen?«
»Wovon sprecht ihr da eigentlich?«, wollte Mum wissen und sah irritiert von einem zum anderen. »Wer ist denn dieser Marcus?«
»Das geht dich nichts an«, fauchte ich. »Vielleicht erzähle ich es dir in zwanzig Jahren.«
»Bitte, Tamara«, sagte sie flehend.
»Er wäre um ein Haar ins Gefängnis gekommen«, wandte ich mich erneut an Schwester Ignatius.
Doch sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das hätte ich niemals zugelassen. Ich habe Rosaleen mehrmals gebeten, sie soll es dir sagen. Wenn nicht dir, dann wenigstens der Polizei. Aber sie meinte, es würde schon gutgehen. Da habe ich mich schließlich doch eingemischt, bin nach Dublin zu Garda Fitzgibbon gefahren und habe ihm dieses Dokument persönlich übergeben. Es gab auch noch eine Anzeige wegen Einbruch, aber in Anbetracht der Umstände hat man dann alles fallenlassen.«
»Was hat man fallenlassen? Was ist denn passiert?«, fragte meine Mum wieder und sah Schwester Ignatius besorgt an.
Gott, Tamara, wenn du das nicht inzwischen weißt, dann hast du noch mehr Probleme, als ich bisher dachte.
So hatte es im Tagebuch gestanden, und jetzt wunderte es mich nicht mehr. Marcus hätte ja denken müssen, ich wüsste nicht, wie alt ich war! Für einen Moment war ich so erleichtert, dass meine Wut verpuffte. Aber dann fing ich wieder an zu kochen. Mein Kopf dröhnte, und ich tastete mit der Hand nach meiner Wunde. Sie hatten mich mit Lügen abgespeist und lediglich eine Spur von Brotkrümeln für mich ausgelegt, der ich ganz allein hatte folgen müssen, um die Wahrheit herauszufinden.
»Also, verstehe ich das richtig? Rosaleen hat nicht gelogen, und Laurie ist tatsächlich mein Vater. Dieser Freak … mit den ganzen Fotos?«, rief ich entrüstet.
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