Ich sehe was, was du nicht siehst
ein paar Drohungen hatte sie auch noch mit auf den Weg bekommen.
Sie ging in die Frühstückspension. Zwanzig Minuten später, nachdem sich – wie erwartet – herausgestellt hatte, dass die Pension ebenfalls eine Niete war, trat sie wieder hinaus auf die Straße und strich sie von ihrer Liste. Sie schob den Zettel zurück in ihre Handtasche und sah auf, nur um direkt in die dunklen Augen Pierce Buchanans zu blicken.
Sein Pontiac GTO parkte am Bordstein. Er lehnte sich gegen die Tür, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die gespreizten Beine vor sich ausgestreckt. Einen Moment lang kam es ihr so vor, als hätte es die vergangenen Monate nicht gegeben. Sie erinnerte sich an ihre ersten Dates im Pfannenstiel, als er ihrem Bruder dabei geholfen hatte, den Fall, den sie zusammen gelöst hatten, abzuschließen. Nach dem dritten oder vierten Date hatte sie entschieden, dass es besser war, ihn nicht länger zu treffen. Es war zu schön mit ihm, zu perfekt – es machte ihr Angst. Sie war ihre eigenen Wege gegangen, doch das befreite Gefühl hatte nur wenige Wochen vorgehalten.
Sie hatte ihn vermisst und sich nichts sehnlicher gewünscht, als ihn wiederzusehen. Also war sie zu ihm nach Jacksonville gefahren, und er hatte sie mit offenen Armen empfangen. Sie hatten die Abende am Strand verbracht, sich in einem gemieteten Boot den St. Johns River hinuntertreiben lassen und die Lastkähne dabei beobachtet, wie sie auf dem Weg zum Hafen an ihnen vorbeischipperten.
Alles war wunderschön gewesen bis zu dem Tag, als in seiner Abwesenheit ein Juweliergeschäft angerufen und eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen hatte: Der von ihm bestellte Verlobungsring könne jetzt abgeholt werden. Sie fühlte sich eingesperrt, es fühlte sich an, als ob die Wände auf sie zukämen. Bei dem Gedanken an eine erneute Heirat brach ihr der Angstschweiß aus, und sie bekam kaum noch Luft.
Also hatte sie ihm, sobald er nach Hause kam, eine grausame Lüge erzählt, denn sie wollte nicht, dass er seine Zeit verschwendete und darauf wartete, dass sie ihre Meinung änderte und zu ihm zurückkehrte. Sie hatte ihre Worte so gewählt, dass sie sicher sein konnte, dass er sie gehen lassen würde. »Ich liebe dich nicht. Eine gemeinsame Zukunft kann es für uns nicht geben.«
Madison schob die schmerzlichen Erinnerungen unbarmherzig beiseite. »Was machst du hier?«, fragte sie.
Er richtete sich auf und öffnete die Beifahrertür. »Das war die letzte Station auf deiner Liste, stimmt’s? Wie wär’s mit einem späten Mittagessen, ich lade dich ein.«
Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Wie meinst du das, die letzte Station auf meiner Liste?«
»Jedes Mal, wenn du ein Gebäude verlässt, hakst du auf deinem Zettel einen Namen ab. Es sah so aus, als befände sich diese Frühstückspension ganz unten auf der Liste, also dachte ich, dass du für heute fertig wärst.«
»Welche Liste?«, fragte sie noch einmal. War er ihr tatsächlich den ganzen Tag gefolgt, und sie hatte es nicht bemerkt? Dieser Gedanke ärgerte und alarmierte sie gleichermaßen. Wenn es für ihn so leicht war, ihr zu folgen, was war ihr sonst noch entgangen?
Sie musterte ihre Umgebung und zog ihre Jacke enger um sich, während sie die Schatten nach der Silhouette einer vertrauten Gestalt absuchte.
Damon.
»Die Liste, die du gerade in deine Handtasche gesteckt hast«, antwortete Pierce.
Sie wandte sich ihm zu und verschränkte die Arme vor der Brust. »Bist du mir etwa den ganzen Tag gefolgt?«
»Technisch gesehen nicht. Ein anderer FBI -Agent hat dich im Auge behalten, während ich noch ein paar Dinge erledigt habe.
Danach
bin ich dir gefolgt.«
Das Blut stieg ihr in die Wangen, und zornig drehte sie sich um. Sie marschierte an der geöffneten Beifahrertür vorbei und ging rasch die Straße hinunter.
»Feigling.« Seine Beschimpfung hallte zwischen den Häusern wider.
Sie versteifte sich, ging aber weiter.
Bei dem Geräusch eines starken Motors, der angelassen wurde, beschleunigte sie ihr Tempo. Pierce’ Angeberauto flitzte direkt vor ihr in eine Parklücke. Als er ausstieg, rannte sie um die Häuserecke auf die Congress Street.
Sie hörte seine Schritte schon hinter sich auf dem Bürgersteig, noch ehe er sie an den Schultern packte. Er zwang sie, stehen zu bleiben, und drehte sie so herum, dass sie mit dem Gesicht zu dem Gebäude stand, das vor ihr aufragte.
»›Molly MacPherson’s Scottish Pub and Grill‹«, las er von dem Schild über
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