Ich sehe was, was du nicht siehst
war, kam das allerdings nicht infrage.
Sie atmete tief ein und konzentrierte sich darauf, seine Fragen zu beantworten, ohne komplett die Fassung zu verlieren. »Ich habe dir ziemlich viel Material gegeben. Du hast ihn mit eigenen Augen gesehen. Er hat auf dich geschossen, er ist real, ein Mensch aus Fleisch und Blut, und er ist hinter mir her. Warum? Das weiß ich nicht. Du kennst alle Einzelheiten – die Briefe, die Schießerei. Heute Morgen hat er einen Jungen getötet, und Mr Newsome wird vermisst.«
»Vielleicht.«
»Vielleicht was? Vielleicht hat er den Jungen getötet oder vielleicht hat er Mr Newsome etwas angetan?«
»Beides.«
Das war’s. Sie hatte genug. Nachdem sie ihre Beine entwirrt hatte, stand sie auf. »Das reicht für heute.« Sie hatte gerade erst den Flur erreicht, als er plötzlich vor ihr stand und ihr den Weg verstellte. Sie versetzte ihm einen Stoß gegen die Brust. Er zuckte zusammen, und sie zog die Hände zurück.
»Es tut mir so leid. Ich hatte deine Rippenverletzung vergessen. Alles in Ordnung?«
»Mir geht’s gut.« Er atmete hörbar aus. »Lauf nicht davon. Ich will dir helfen, und dafür brauche ich die Fakten.«
»Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß.«
Er zog die Augenbrauen zusammen. »Wohl kaum. Wie ist es dir gelungen, die Scheidung von einem Mann zu erzwingen, der ohnehin für tot erklärt worden war?«
Sie erstarrte. »Wieso erzwungen?«
»Kein Gericht der Welt wird ein Scheidungsverfahren weiterverfolgen, wenn einer der Ehepartner für tot erklärt worden ist. Wie hast du das geschafft? Hast du den Richter bestochen?«
Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Das ist lächerlich. Warum sollte ich so etwas tun?« Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie hören konnte, wie das Blut in ihren Ohren rauschte. Sie konnte ihm nicht sagen, dass sie die Scheidung für den Fall forciert hatte, dass ihre schlimmsten Albträume wahr wurden: für den Fall, dass der Mann, der bei dem Unfall gestorben war,
nicht
Damon war.
»Mir fällt nur ein einziger guter Grund ein, warum du das getan haben könntest«, fuhr er fort und trieb sie unbarmherzig weiter in die Enge.
»Ich möchte das nicht hören.« Sie wollte sich umdrehen, doch er packte sie am Arm.
Seine Augen funkelten, als er sich zu ihr hinunterbeugte, sodass sein Gesicht nur wenige Millimeter von ihrem entfernt war. »Vor achtzehn Monaten ist ein Mann bei einem Autounfall gestorben und verbrannt. Du hast ihn beerdigt und einen Grabstein mit dem Namen deines Mannes auf sein Grab gestellt. Doch die Lebensversicherung, die auf seinen Namen abgeschlossen wurde, hast du dir nie auszahlen lassen.«
Panik stieg in ihr auf. Sie versuchte, ihren Arm wegzuziehen, doch sein Griff war wie ein Schraubstock.
»Du hättest nicht gedacht, dass ich von der Versicherung weiß, hab ich recht? Es war nicht einfach, das herauszubekommen, aber Casey hat’s geschafft. Mir fällt nur ein Grund ein, warum jemand sich eine Lebensversicherung nicht auszahlen lässt. Du wusstest, dass Damon noch lebt. Du hast es die ganze Zeit gewusst.«
Sie versuchte verzweifelt, ihren Arm wegzuziehen, damit er sie endlich losließ.
»Du hast die Scheidung doch nur durchgezogen, damit du keine Schuldgefühle dabei haben musstest, mit anderen Männern ins Bett zu gehen. Hast du dich weniger schuldig gefühlt, als du mit mir geschlafen hast?«
Sie zuckte zurück, als hätte er sie geschlagen. Er behandelte sie wie ein Flittchen und tat so, als hätte sie seit Damons Tod und nachdem sie Pierce verlassen hatte, mit Dutzenden von Männern geschlafen. Glaubte er wirklich, dass sie so ein Mensch war? Sie blinzelte, entschlossen, die Tränen zurückzuhalten, die ihr unter den Lidern brannten. Sie würde ihn nicht wissen lassen, wie sehr er ihr wehgetan hatte. Nach Damon war Pierce der einzige Hoffnungsschimmer in ihrem Leben gewesen, der Lichtstrahl, der die Dunkelheit ihrer Vergangenheit vertrieb, selbst wenn es nur für einen kurzen Moment war. Abgesehen von Damon war Pierce ihr einziger Liebhaber gewesen. »Lass mich gehen«, forderte sie.
Doch anstatt sie loszulassen, wurde Pierce’ Griff fester, und er zog sie zu sich heran.
Sein Gesicht war zu einer wütenden Grimasse verzerrt. »Hast du gelogen, was Damon angeht? War er wirklich der schreckliche Ehemann, als den du ihn hinstellst? Oder hast du dir das alles nur ausgedacht?«
Sie schnappte empört nach Luft. »Was? Nein. Nein, ich habe nicht gelogen. Er war …« Sie blitzte ihn wütend an. »Ich habe nicht
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