Ich Töte
hatte das Radio nie wieder angestellt.
Seine Mutter brachte diese Rückentwicklung von Pierrots Verhalten zum Verzweifeln. Regelmäßig in den Sender zu gehen, sich als Teil einer größeren Sache zu fühlen, eigenes Geld zu verdienen –
die Mutter, um ihn stolz zu machen, hatte mehrmals unterstrichen, 502
wie wichtig diese Summe für ihren gemeinsamen Haushalt war –, hatte ihm eine Tür zur Welt geöffnet.
Die Freundschaft mit Jean-Loup, den er regelrecht verehrte, hatte diese Tür dann restlos aufgestoßen. Jetzt schloss Pierrot sie wieder, und seine Mutter fürchtete, dass er es, war sie erst einmal zu, keinem mehr gestatten würde einzutreten. Nie mehr.
Es war unmöglich zu begreifen, was in Pierrots Kopf vorging.
Und doch hätten sie alle, vom Ersten bis zum Letzten, mit offenem Mund dagestanden, wenn sie seine Gedanken hätten lesen können. Alle nahmen an, seine Traurigkeit und seine Stummheit resultierten aus der Entdeckung, dass sein Freund in Wirklichkeit der, wie er ihn immer nannte, böse Mann war, der ab und zu mit der Stimme des Teufels im Radio angerufen hatte. Alle dachten, es sei die Reaktion eines reinen Gemütes, das nicht umhin konnte anzuerkennen, dass es sein Vertrauen jemandem geschenkt hatte, der es nicht verdiente.
Doch Pierrots Vertrauen in Jean-Loup und seine Freundschaft waren nicht im Mindesten von den jüngsten Ereignissen und von den Enthüllungen der Leute über sein Idol berührt.
Er kannte Jean-Loup. Er war bei ihm zu Hause gewesen, sie hatten gemeinsam Crêpes mit Nutella gegessen, und Jean-Loup hatte ihn sogar einen italienischen Wein kosten lassen, der ein Muskateller hieß und ihm sehr gut geschmeckt hatte. Er war süß und kühl gewesen, und ihm war ein wenig schwindlig davon geworden. Sie hatten Musik gehört, und Jean-Loup hatte ihm sogar ein paar von seinen kostbaren Platten geliehen, den großen, schwarzen Langspielplatten, damit er sie zu Hause hören konnte. Außerdem hatte er ihm seine Lieblings-CDs kopiert, wie die von Jefferson Airplane, die von Jeff Beck mit der Gitarre auf der Hebebühne und die letzten beiden von Nirvana.
Wenn sie zusammen gewesen waren, hatte er Jean-Loup nie, nicht ein einziges Mal, mit der Stimme des Teufels sprechen hören.
Im Gegenteil. Mit seiner schönen Stimme, die genauso klang wie im Radio, hatte er ihm lustige Geschichten erzählt, und manchmal waren sie nach Nizza gefahren, hatten riesige Eisbecher gegessen und waren lange vor den Schaufenstern der Tierhandlungen stehen geblieben, um den süßen Welpen in ihren Käfigen zuzusehen.
Jean-Loup hatte immer gesagt, dass sie die besten Freunde seien, und er hatte immer gezeigt, dass es die Wahrheit war. Wenn Jean-Loup also immer die Wahrheit gesagt hatte, hieß das ganz einfach, 503
dass es die anderen waren, die logen.
Ständig fragten sie ihn, was mit ihm los sei, und versuchten, ihn zum Sprechen zu bringen. Er wollte niemandem verraten, nicht einmal seiner Mutter, dass seine tiefe Traurigkeit vor allem daran lag, dass er Jean-Loup, seit all diese Dinge passiert waren, nicht mehr gesehen hatte. Und dass er nicht wusste, was er tun konnte, um ihm zu helfen. Vielleicht war er gerade jetzt irgendwo versteckt und hatte Hunger, doch niemand kam und brachte ihm etwas zu essen, nicht einmal ein Nutella-Brot.
Pierrot wusste, dass die Polizisten seinen Freund suchten und dass sie ihn ins Gefängnis werfen würden, wenn sie ihn fanden. Er hatte keine genaue Vorstellung davon, was ein Gefängnis war. Er wusste nur, dass man dort Menschen hinbrachte, die Böses getan hatten, und dass man sie nicht mehr hinausließ. Und wenn man die, die drinnen waren, nicht hinausließ, hieß das, dass man die, die draußen waren, auch nicht hineinließ. Und dass er Jean-Loup nie mehr wiedersehen würde.
Ob die Polizisten wohl ins Gefängnis hineingehen und die Gefangenen besuchen durften? Auch er war einmal ein Polizist gewesen, ein ehrenwerter Polizist. Das hatte ihm der Kommissar gesagt, der mit dem netten Gesicht, den er nun schon länger nicht mehr gesehen hatte, von dem es hieß, er sei gestorben. Doch nach der ganzen Bescherung, die er angerichtet hatte, war er vielleicht kein ehrenwerter Polizist mehr und durfte deshalb vielleicht nicht ins Gefängnis und konnte Jean-Loup nicht besuchen.
Pierrot wandte den Kopf und sah Barbara hinterher, die zum Regieraum ging. Er betrachtete ihre dunkelroten Haare, die beim Gehen auf ihrem schwarzen Kleid hin und her tanzten. Er mochte Barbara.
Nicht wie
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