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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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Nachts waren die Häuser in der Stadt älter, konturierter, die Fabrikfenster leer und doch voll von all den Menschen, die je aus ihnen herausgeguckt hatten, Jahr um Jahr, jedes Blinzeln. Der Schnee, der den Spiegel blank machte.
    Aber im August 1979 zog ich wieder nach Florida und konnte nicht laufen. Alles war dem Verbrennen ausgesetzt, Zwergpalmen, Piniennadeln, die Sonne entzündete die Menschen zu trunkenen Kerzen. Nachts machte ich Spaziergänge in der Schwüle, an Sandgruben vorbei, die Klimaanlage des Einkaufszentrums eine kühlende Hand, ich trug Shorts und ein ärmelloses Top, in der Hosentasche Dollars für eine Zeitschrift. Ein Mann vor mir in Jeans wirkte seltsam, pummelig in einem dicken Sweatshirt, zu dick angezogen. Aber der Himmel war rosa, es ging ein Lüftchen.
    Auf dem Weg zurück vom Drugstore sah ich den Jogger vor mir, er hatte auch kehrtgemacht und lief denselben Weg zurück. Doch dann verschwand er. Ich kam gerade zu dem 7 -Eleven, erinnerte mich, dass sie
Rolling Stone
führten, holte mir die Ausgabe mit Joni Mitchell auf dem Cover, gepudert, alternd. Später wurde mir klar, wo der Jogger verschwunden war, ich verstand, dass er wie eine Figur auf einem Spielbrett erschienen und dann beim 7 -Eleven verschwunden war. Hinter dem Laden war es abgeschieden und dunkel. Dort stellte ich ihn mir vor, in seinen warmen Sachen und verwundert, dass ich nicht an seinem Messer und der grünen Abfalltonne vorbeikam – die Vorstellung, wie leicht meine Flügel gekappt wären, die Beine weggeknickt, kreuz und quer. Ungeduldig war er mir vorausgelaufen, während ich im Laden noch geblättert hatte. Er wartete abermals, im Dunkeln bei meinem Haus. Mit Skimütze, das gelbe Haar wie Besenborsten, Löcher für Augen, Mund.
    Als ich um die Ecke bog, zu unserer Siedlung, sah ich ihn bei einem hohen Gebüsch, fast eine Hecke, etwas, wohinter er sich verstecken konnte. Als er sprach, schmeckte ich deutlich, wie ich ohne Weiteres Blätter an einem verborgenen Ort sein konnte. Regen und Blut, Erde, wo jemand sich zwischen Holz und Büschen bewegt. Sein Messer an meinem Bauch, den Eingang markierend, aber ich hielt mich an der weißen Mittellinie. Ich verlor an Boden, bis ein Auto kam, ihn vertrieb, die Scheinwerfer hell wie Schnee.
    Wenn Zeit die Seele der Welt ist, dann muss dieser Moment irgendwo sein. Meine Momente des Entrinnens. Ist alle Zeit hier irgendwo? Die Kassetten, die ich von Tommy habe (Tom? Ich weiß schon nicht mehr, wie ich ihn nennen soll), ist auch die Zeit auf den Kassetten hier irgendwo und fängt immer wieder von vorn an, immer wieder? Ist er irgendwo hier lebendig? Ich habe die Kassetten jetzt seit über einem Monat. Ich habe ein paar Leute bei der Arbeit gefragt, wo ich sie hinbringen könnte, um sie auf DVD überspielen zu lassen. Wie schwer es war, Nick zu fragen, dann Nancy, einfach die Frage zu stellen. Ich hatte das Gefühl, tief unter Wasser zu sein, von jedem Wort erschöpft. »Ruf bei Speedwell an«, sagte Nancy. »Die können dir das sagen.« Als es kälter wird, lege ich die Kassetten in die Kommode aus meiner Kindheit, beschütze sie mit meinen Sachen. Ich sage mir, die Kassetten könnten brüchig sein, sie könnten zerstört werden, wenn man etwas damit macht.
    Vor fünfhundert Millionen Jahren lebten Strahlentierchen im Meer. Die Fossilien dieser Einzeller geben Aufschluss über das Alter der Felsen in der Tiefe des Meeres. Fossil, von Lateinisch
fossilis,
ausgegraben. Die Gräber der Strahlentierchen. Ihre Skelette aus Kieselgel im Sand. Vor wie langer Zeit hat die Zeit angefangen? Jedes Mal, wenn ich zurück nach Orlando komme, habe ich das Gefühl, durch meine Vergangenheit zu gehen. Einmal wollte ich auf meiner alten Einfahrt stehen, und das Haus war weg, einfach weg, nichts als Gras. Als hätten sie mich, wie ich damals war, in dem Haus, mitgenommen – mich und den Sugar-Mountain-Mann und die Bretter und Nägel. Ich kam mit Nick vom Künstlerhaus dort vorbei. Wir fuhren in einem Minibus und brachten drei Künstler nach Orlando, zu einer Lesung im Haus eines Förderers. Als wir an dem leeren Grundstück vorbeifuhren, drehte ich mich zu Nick, der am Steuer war, um und sagte: »Hier habe ich gewohnt.« Betroffen. Nick sagte: »Lass es los«, sehr sachlich, wie es jemand, der fünfzig ist und in seinem Leben eine Menge losgelassen hat, sagen kann. Aber ich sehe unsere Körper, unser Haar, unsere Hände auf der Haut in der Schaufel des Baggers, sehe, wie wir, als wären wir

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