Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
ausspricht, bevor man stirbt, zurückkommen kann. Bevor das Mädchen zu Boden fiel, hatte es leben wollen, und deshalb ist es zurückgekommen, in anderer Gestalt. Als der Erzähler an einem früheren Punkt der Geschichte das Mädchen in einem leeren Zimmer findet, wo es sich schneidet – Blut an den Armen –, habe ich das Gefühl, dass ich beides bin, das Mädchen und der Erzähler. Nachdem das Mädchen in der Geschichte gestorben ist, vergehen Jahre, bevor es zurückkommt. Als es dann zurückkommt, kommt es als Kind, und der Erzähler ist immer noch erwachsen. Aber sie erkennen sich, und nichts – nicht die Selbstverstümmelung, nicht der Tod oder die geografische Entfernung oder das Alter – hält sie davon ab zu sehen. Ich weiß, dass mein Sohn mir nicht verloren ist. Ich weiß, dass niemand je verloren ist. Aber diese Geschichte ist von einem anderen, der das glaubt und es mir erzählt. Ich möchte so schreiben können. Ich werde die Geschichte im Schneidersitz auf meinem Himmelbett lesen, in Tränen, außer mir, es ist, als könnte ich endlich eine Welt sehen, von der ich wusste, dass sie existiert. Beim Lesen fange ich an, mich zu drehen – außerstande, länger als ein paar Augenblicke in eine Richtung zu gucken. Vielleicht ist es, als ich sterbe, wie in der Geschichte, und meine Liebe für meinen Mädchenkörper gilt als Wunsch.
Die drei Männer in dem Haus merken nicht, dass das Mädchen, das sie vergewaltigt und erstickt haben, gestorben ist, und sie schlafen, als ich aus der Höhle zurückkehre. Ich bin gestorben und zurückgekommen. Ich weiß nicht, wie lange sie mich zu erdrücken versucht haben, nachdem ich wegen Sauerstoffmangel das Bewusstsein verloren hatte. Wie lange es gedauert hätte, bis ich wirklich gestorben wäre. Ich erinnere mich nicht, dass ich zurückgekommen bin. Plötzlich ist es Morgen. Als hätte ein Engel seinen Mund an meinen gelegt und geatmet, wie ein Echo von Vögeln oder Regen. Und mir die Seele zurückgebracht, ein blauer Schatten, zurück in meinen Körper. Aber das Mädchen, das ich einmal war, ist nicht mehr.
Bei den Treffen sprechen die Leute über die schrecklichen Dinge, die noch nicht geschehen sind, aber geschehen können, wenn ein Alkoholiker weiter trinkt. Ich habe immer geglaubt, ich würde mich retten können. Ich erinnere mich an einen Mann bei den Treffen, der in seinem Rausch einen Menschen getötet hatte und im Gefängnis aufwachte. Aber ich dachte, solche Dinge passieren nur anderen. Als ich den Mann, der nach vielen Jahren aus dem Gefängnis gekommen war, kennenlernte, war er so freundlich. Immer bereit, anderen Alkoholikern zu helfen. Anfangs kannte ich seine Geschichte nicht und dachte, er sei einer der Erfolgreichen, die wussten, wie man die Zwölf Schritte macht. Manchmal glaubte ich, er betrachte mich kritisch, weil ich es nicht schaffte, trocken zu bleiben. Ich verstand nicht, dass er mich erkennen konnte, weil wir gleich waren. Wenn jemand die Versprechungen erwähnte – »Wir werden eine neue Freiheit und ein neues Glück erfahren« –, spürte ich, dass sich vor mir ein Weg auftat. Ich glaubte daran, aber ich dachte, auch das sei nur für die anderen.
Ich muss aus dem Haus raus. Ich stehe unter Schock, aber ein Teil von mir weiß, was zu tun ist. Als Erstes brauche ich etwas zum Anziehen. Die türkisblaue Bluse mit den schwarzen Punkten ist an der einen Seite aufgerissen, aber die Männer haben sie mir nicht ausgezogen. Kein Rock. Ich stecke meine Beine in eine Jeans, die einem der Männer gehört. Ziehe sie hoch. Zu groß. Der Mann wacht auf, beschwert sich.
Sie erlauben, dass ich mich anziehe. Sie fahren mich zu meinem Auto, aber meine Schlüssel sind weg, meine Handtasche. Ich gehe allein los und singe in meinem Kopf ein Lied von früher. Mit der Handtasche ist auch meine Brieftasche verschwunden, in der ein Foto von meinem Sohn und ein Foto von mir als Kind waren. Sie waren nebeneinander – dasselbe Gesicht, neunzehn Jahre dazwischen, meins schwarz-weiß, seins in Farbe. Meine Großmutter hat mir die Fotos geschenkt, nachdem mein Sohn gestorben war.
Nachdem ich eine Stunde durch die Morgenhitze gegangen bin – zwischen den pastellbunten Sonntagsmenschen, die an mir vorbeieilen –, komme ich zu dem Eisenbahnrestaurant, in dem ich nicht mehr arbeite. Dort war ich immer wie eine Balletttänzerin gekleidet, alle Kellnerinnen und Cocktail-Kellnerinnen trugen schwarze Gymnastikhosen, schwarze Chiffonröcke, Ballerinaschuhe. Mein Körper
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