Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
habe ich verloren oder zerschlagen oder weggeworfen. Die andere steht am Fußende meines Bettes. Früher war ich freundlich zu Nana, mochte ihre Vorliebe für hübsche Dinge. Dass sie die Tüte aufhob, in der das Geschenk für sie war. Sie an die Badezimmertür hängte. Ich war ins Einkaufszentrum gegangen und wollte bei Limited, einem Geschäft, in dem ich ausschließlich an mich dachte, zwanzig Dollar ausgeben. Ich kaufte Nana Smith eine Silberkette mit Anhänger. Ich habe sie die Kette einmal tragen sehen, hell auf der Brust, auf dem Pullover. Ihre Schwestern standen in ihrem Haus um sie herum. Nana verstand die Kette als Zeichen, dass sie geliebt wurde, das wusste ich. Jahre später, als sie stirbt, finden wir ihren Schmuck in dem Karton von Limited mit dem schwarzen Deckel. Ohne die Kette.
1998 , als meine andere Großmutter auf dem Cape stirbt, besuche ich Nana in einem großen, billigen Gebäude in Brockton, in ihrer Wohnung wie aus Lego. Ich möchte, dass sie wie eine Großmutter ist. Ich möchte, dass sie sagt: »Es tut mir leid, dass deine andere Großmutter gestorben ist«, und mein Haar berührt. Sie holt zwei Kleider aus dem Schrank und sagt: »Ich habe sie aus einem Katalog gekauft.« Sie ist mit sich zufrieden. Die Kleider sehen aus wie Dreiecke. »Bist du mir böse?«, fragt sie.
Bald wird Nana alles verweigern – Nahrung, Fernsehen, Gespräche, Bücher. Bald wird sie weglaufen und dann aus ihrem Betreuten Wohnen weggeschickt werden. Sie wird sich völlig in sich selbst zurückziehen, in einer psychiatrischen Klinik, und zwei Wochen, bevor ich sie besuchen will, sterben. Aber als sie in ihrer Wohnung im Betreuten Wohnen war, habe ich ihr ein Foto mitgebracht, das jemand auf einem Dachboden in Irland gefunden hatte, von Nana Smith und meinem Dad als Baby. Und ein anderes Foto, auf dem sie mit Ben Groom frisch verheiratet ist und schwanger mit Frank O’Connors Sohn, meinem Dad, und keiner außer ihr weiß es, nicht einmal die beiden Männer, nicht einmal ihre Halbschwester Anne, die alles weiß. Sie trägt eine Baskenmütze und sieht ein wenig betrunken aus, aber zugleich zart. Ben steht hinter ihr, er guckt nicht zum Fotografen, als könne er sein Glück und das, was er geschafft hatte, nicht fassen. Sie sieht wild aus, wie ein Tier in Ruhestellung, in Kleidern. Sie lehnt zur einen Seite, er zur anderen, sodass das Haus hinter ihnen sich zu neigen scheint. »Das bist du«, sage ich.
Nach ihrem Tod fahre ich nach Rockland, um ihr Grab zu besuchen. Ich kenne die Stadt nicht, die Straßen sind wie Venen. Das einzig Vertraute ist eine Drugstore-Kette. »Wo ist der Holy-Family-Friedhof?«, frage ich die Kassiererin im Drugstore. Sie weiß es nicht. Im Gang der Mann mit grünen Hosen weiß es auch nicht.
Die Kassiererin sagt: »Mein Dad weiß das bestimmt.« Sie nimmt ihr Mobiltelefon. Ich gehe hinter ihr her auf den Parkplatz hinaus, während sie spricht. Er ist leer, eine graue Arena, wo früher etwas los war. Nanas Friedhof ist ganz in der Nähe, wie sich herausstellt – es ist wie ein großer Kreisverkehr. Als ich auf dem Friedhof bin, rufe ich meinen Dad an.
»Ich bin hier«, sage ich. »Wohin jetzt?« Dass ich den Friedhof gefunden habe, dass ich fast bei seiner Mutter bin, überrascht ihn, das höre ich ihm an. Ich höre ihm an, dass er überrascht ist, eine Tochter zu haben, die seine Mutter findet. Die ihr Blumen bringt.
Ich habe einmal ein Lama gesehen, kurz nachdem es ein Junges bekommen hat. Ich war zufällig darauf gestoßen, in der Lichtung eines fast völlig verlassenen Safariparks, wo die Tiere auf einen zukamen, während man selbst im Auto saß, als würden sie gerade die Arche Noah verlassen: Kamele, Elche, Gnus, Schweine, Rehe, Büffel. Alle hungrig. Es gibt nicht genug Besucher, die weiße Eimer mit Futter aus ihrem Autofenster halten. Die Tiere umringen uns, Fliegen auf ihrem Fell. Ein dunkles Auge und noch eins drücken sich ans Fenster, das zu öffnen ich mich weigere. Aber mein Freund auf dem Rücksitz interessiert sich für Migration, wie die Dinge auf uns zukommen. Er macht ein Foto nach dem anderen – der Vogel Strauß, der seinen irisierenden blauen Hals hinter meinem eigenen reckt und so schnell blinzelt, dass er gar nicht zu blinzeln scheint. Die Rehkitze mit ihren blonden Wimpern, die ihre Köpfe zu uns herauf heben, zu klein, um uns zu sehen. Ich drehe mich nach hinten und sehe, wie die schwarze Nase eines Büffels sich nass gegen die Fingerknöchel meines Freundes
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