Ich und du Muellers Kuh
war kein mühsam eingeübtes Stücklein aus den »leichten Choralvorspielen für Anfänger«, das war eine Orgelorgie, wie ich sie sieben Jahre lang nicht mehr erlebt hatte. Ich verdrehte den Kopf, um diesen begnadeten Organisten zu erspähen, aber mein Blick blieb in einer Mantelmauer hängen, denn hinter mir hatten sich die Kirchgänger bereits erhoben. Wie eine Welle lief es von hinten nach vorne durch die Kirche, ich wurde mit hochgerissen.
Durch den Mittelgang schritten die kirchlichen Würdenträger. Voran der Herr Dekan, in gebührendem Abstand die vier Pfarrer der Nikodemuskirche, Manfred mitten unter ihnen, dann noch einmal zwei Pfarrer, alle im Talar, mit steifgestärktem Beffchen unter dem Kinn. Den Schluß bildeten die zwölf Kirchengemeinderäte, sie allerdings nur im landesüblichen Sonntagsgewand.
Ich liebe kirchliche Prachtentfaltung! Sie rührt mich zu Tränen. Sie verschafft mir das angenehme Gefühl, einer machtvollen Institution angehören zu dürfen. Ein frommer Schauder läuft mir über den Rücken, und ich beschließe bei solchen Gelegenheiten, ein neuer Mensch zu werden.
Auch die anderen Kirchenbesucher genossen den eindrucksvollen Einmarsch bei Orgelmusik. Ich sah es am strahlenden Blick, am hochgereckten Kinn. Jeder fühlte sich zutiefst erhoben, als wir nun wieder Platz nehmen durften. Die kirchlichen Würdenträger verteilten sich im Altarraum und saßen dort vor unser aller Augen in eindrucksvollem Halbkreis.
Nachdem sich die erste Rührung gelegt, machte ich mir einen Knoten ins Taschentuch. Ich darf nicht vergessen, Manfred zu sagen, daß er aufrecht gehen soll. Er wirkt so niedergeschlagen, wenn er die Schultern hängen läßt. Doch nein, ich knotete das Taschentuch wieder auf. Kein Wort des Tadels sollte am heutigen Tag über meine Lippen kommen! Denn wie viele Lasten lagen heute auf seinen Schultern! Erst die Predigt, dann die Verlesung seines Lebenslaufes, die Investitur und schließlich noch eine Taufe. Dies alles mochte einen Menschen wohl zu Boden drücken! Armer Manfred!
Die Liturgie hielt der Dekan. Also konnte ich mich in aller Ruhe entspannen und Kräfte sammeln für Manfreds Auftreten. Schon war es soweit. Er erhob sich und ging mit wehendem Talar der Kanzel zu. Höchste Zeit, meine Sorgenlast wieder auf mich zu nehmen! Es galt da nämlich eine Schwierigkeit zu meistern und etwas Neues zu erlernen, und das war der Umgang mit dem Mikrophon. In Weiden hatte es so etwas nicht gegeben, da reichte Manfreds Stimme aus, um das kleine Kirchlein zu füllen, hier aber war ein Mikrophon an der Brüstung des Kanzelbollwerks befestigt, und ich betrachtete es mit Mißtrauen. Gut, daß ich nicht in die Zukunft schauen konnte, sonst wäre meine Sorge ins Uferlose gewachsen, denn wieviel Ärger mußten wir noch mit dieser technischen Errungenschaft erleben! Jeder der vier Pfarrer hatte ein anderes Stimmvolumen, also kam es vor, daß das Mikrophon für den einen zu leise eingestellt war. Dann schlich Mesner Lasewatsch in die Sakristei, um es aufzudrehen. Mittlerweile hatte der Pfarrer aber auch gemerkt, daß seine Zuhörer die Hände lauschend an die Ohrmuscheln hielten und ihn offenbar nicht gut verstanden. Also steigerte er die Lautstärke, und wie das Leben so spielt, drehte im selben Augenblick Mesner Lasewatsch in der Sakristei das Mikrophon kräftig auf. Die Zuhörer fuhren erschrocken zusammen und wunderten sich, warum, um alles in der Welt, der Pfarrer auf einmal so brüllte.
Es ergab sich natürlich auch die Möglichkeit, daß das Mikrophon zu laut eingestellt war. Dann reagierte es mit einem unerfreulich hohen, vibrierenden Ton und pfiff angstvoll, sobald sich der Pfarrer auch nur um einen Zentimeter näherte.
Beim Investiturgottesdienst gab es keinerlei Pannen dieser Art. Das Mikrophon war richtig eingestellt, Manfred hielt den gehörigen Abstand. Er brüllte nicht, er flüsterte nicht, nein, er sprach mit ruhiger Stimme, faßte dabei die Gemeinde fest ins Auge und warf nur ab und zu einen kurzen Blick ins Manuskript. Da ich die Predigt schon kannte, ließ ich meine Gedanken schweifen, und sie blieben endlich an einer Geschichte hängen, die mir eine kirchliche Mitarbeiterin aus unserem Haus erzählt hatte. Sie hätte einen Pfarrer gekannt, so berichtete sie, der besonders schön predigte und einen starken Zulauf hatte in der Gemeinde. In seinem Predigtmanuskript — das wußte sie aus sicherer Quelle — hätte er gelegentlich mit Rotstift an der Seite vermerkt: »weinen!«
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