Ich versprach dir die Liebe: Roman (German Edition)
hören, aber ich fürchtete, dass mir die Hand ausrutschen könnte. Was war dieser Christopher doch für ein Weichei! Immer musste seine große Schwester ihm als Handlanger dienen! Aber natürlich wollte ich Ellesverhätscheltes Brüderchen nicht vor ihren Augen windelweich prügeln.
Elle.
Im Flur blieb ich stehen und betrachtete durch die Glasscheibe ihren reglosen Körper mit den geschlossenen Augen und den von dem Unfall und der OP geschwollenen Lidern. Selbst wenn sie die Augen öffnen könnte, würde sie mich nicht sehen.
Kein Wunder, dass die Familien meiner Patienten ihr Heil im Leugnen suchten. Auch ich begriff zwar die physiologischen Details von Elles Verletzungen, aber sie ergaben keinen Sinn. Ich brachte es einfach nicht fertig, mich ihnen zu stellen.
»Matt? Hast du gehört?«
Ich wandte mich zu Christopher um und schüttelte den Kopf. »Was denn?«
»Warum hast du mich aus dem Zimmer gescheucht?«
Für Sekundenbruchteile überwog Trauer meinen Ärger, doch dann kehrte die Wut unvermindert zurück. »Es stimmt nicht, dass Elle nie Angst hatte. Sie verbarg sie einfach nur besser als andere Leute.«
»Wovor fürchtete sie sich denn, abgesehen davon, so zu enden wie unsere Mom?«
Ich starrte ihn sekundenlang an. Stimmt. Elle hatte immer Angst vor einem langsamen Tod gehabt. Wie konnte ich auch nur in Erwägung ziehen, sie monatelang künstlich am Leben zu erhalten? Weil, so lautete die Antwort, Elle bereit war, ihr Leben für ein Baby zu riskieren. »Davor, dass ihre Träume nicht wahr werden könnten.«
»Das ist nicht das Gleiche.« Er presste die Lippen aufeinander und wich meinem Blick aus. »Wirklich Angst hatte sie nur davor, wie unsere Mutter zu sterben. Wann werden die Geräte abgeschaltet? Ich … ich möchte dabei sein.«
»Sie werden nicht abgeschaltet. Ich habe mich anders entschieden.«
»Warum? Kann Phil sie doch noch retten?« Ein Hoffnungsschimmer glitt über Christophers Gesicht wie ein Sonnenstrahl, der durch düstere Wolken bricht.
Mein Gott, ich wünschte mir nur einen Bruchteil seiner glücklichen Ahnungslosigkeit. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, da ist absolut nichts mehr zu machen.«
Er erstarrte und fuhr sich mit den Händen über die Augen. »Mein Dad hat gestern nur Unsinn geredet. Wie immer, wenn er betrunken ist.«
Unwillkürlich dachte ich an die Zeit, als Hank sich langsam um den Verstand getrunken hatte. Chris war damals gerade acht Jahre alt gewesen, die Mutter lag im Sterben, und Elle glaubte, die ganze Last auf ihre jungen Schultern nehmen zu müssen. »Mich wundert, dass du dich überhaupt noch daran erinnerst«, sagte ich. Hank war seit langem trocken – zumindest bis gestern.
»Ich war alt genug. Du würdest dich wundern, was ich noch alles aus dieser Zeit weiß. Aber du kannst Elle nicht das antun, was unsere Mom erleiden musste.«
Wieder blickte ich durch die Glaswand zu Elle hinüber. Mein Entschluss, sie am Leben zu erhalten, entsetzte mich selbst. »Aber es ist nicht das Gleiche. Elle hat keine Schmerzen. Und sie ist schwanger. Wenn wir sie lang genug stabilisieren können, ist das Baby vielleicht zu retten.«
»Das darf doch nicht wahr sein! Nicht schon wieder! Die wievielte Schwangerschaft ist das jetzt? Die vierte? Die fünfte?« Chris ballte die Fäuste. »Verdammt! Ich habe dir schon letztes Mal gesagt, dass du ihr besser kein Kind mehr machen solltest. Sie ist fast dabei draufgegangen.« Er drehte sich um und betrachtete seine Schwester.
Ich wusste nicht, was ich entgegnen sollte. Alles war meine Schuld.
Normalerweise war Christophers Beschützertrieb gegenüber seiner sieben Jahre älteren Schwester wenig ausgeprägt. Aber nach der letzten Schwangerschaft hatte er mir ins Gewissen geredet, und ich war damals durchaus seiner Meinung gewesen. Es wäre zu riskant gewesen, es noch einmal mit einem Baby zu versuchen.
»Sie hat mir nicht gesagt, dass sie schwanger ist«, murmelte Chris.
»Wir wussten es beide nicht. Es war noch zu früh.«
»Willst du etwa sagen, dass wir sie neun Monate lang mit diesen Maschinen am Leben erhalten müssen? Niemals! Elle hätte das nicht gewollt. Und ich ganz bestimmt nicht. Ich musste schon zusehen, wie meine Mutter auf diese Weise gestorben ist.«
Er stürmte davon. Ich lief hinter ihm her. Als er schon fast am Aufzug war, erreichte ich ihn und griff nach seinem Arm. »Hier geht es nicht darum, was du willst, Chris. Es geht um Elle. Es geht um die Familie, nach der sie sich immer gesehnt
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