Ich war Hitlerjunge Salomon
ausländische Sendungen
im Radio. Jedes Mal, wenn die Lokalzeitung ankündigte, daß
eine Rede Hitlers ausgestrahlt werden würde, herrschte bei
uns zu Hause bange Spannung. Hitler wußte hervorragend,
wie man die Leidenschaften und Gefühle der Bevölkerung
aufpeitschte, was uns stets einen panischen Schrecken verur-
sachte. In seinen Reden beglich er gewöhnlich seine Rechnun-
gen mit der ganzen Welt. Theatralisch sagte er Entbehrung,
Mangel und verheerende Zustände voraus, falls das deutsche
Volk nicht erwache und gegen den Versailler Vertrag zu Felde
ziehe. Ich habe noch heute sein Gebrüll im Ohr: »Wenn es
dem internationalen Finanzjudentum nochmals gelingen sol te,
unser Volk in einen Weltkrieg zu ziehen, damit es noch mehr
horten und profitieren kann, wird das die Ausrottung der jü-
dischen Rasse in Europa bedeuten.« Im Augenblick bemühte
er sich um die Verwirklichung seiner Vorhersage. Selbst in
den schlimmsten Alpträumen hätte ich mir nicht vorzustel en
vermocht, daß ich eines Tages gezwungen sein würde, einen
Eid auf ihn abzulegen und zu seiner Anhängerschar zu gehören.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand.
Plötzlich hörte ich Schritte hinter der Tür, vor der ich stand.
Fluchtartig verließ ich das Treppenhaus und verschwand auf
der Straße. Auf dem Weg schaute ich in den Hinterhof von
Aaron Goretski, wo wir Tischtennis gespielt hatten. Natür-
lich war keine Tischtennisplatte mehr vorhanden. Etwas in
mir weigerte sich einfach, die Tatsache anzuerkennen und
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hinzunehmen, daß eine solche tief verwurzelte Welt im Hand-
umdrehen hatte ausgelöscht werden können, ohne daß ein
Überlebender, ein Zeuge unserer Existenz blieb. Ziellos irrte
ich durch die Straßen.
Das Viertel, in dem die Zakontnastraße lag, zog mich
magisch an. Ich ging jetzt in den freien Stunden zwischen
den Fahrten ins Ghetto regelmäßig dort spazieren. Die schok-
kierenden Bilder, die ich im Ghetto gesehen hatte, brannten
noch in mir, und der Kontrast zum unbeschwerten Leben
der anderen brach mir das Herz.
Gedankenversunken meinen Erinnerungen hingegeben wie
ich war, hätte ich beinahe ein anmutiges junges Mädchen
übersehen, das neben mir stehenblieb. Sie schaute erstaunt
meine schwarze Uniform an, ein verführerisches Lächeln
auf den Lippen. Ich hatte alles andere im Sinn als weltliche
Freuden oder romantische Begegnungen, wandte mich ihr aber
trotzdem zu und fragte sie nach dem Grund ihrer auffälligen
Neugier: »Sind Sie wirklich Mitglied der Hitlerjugend im
Reich?« fragte sie etwas schüchtern. »Ja, von Braunschweig,
ich komme aus Nord-Niedersachsen«, antwortete ich mit
deutlichem Stolz. Mein plötzlicher Hochmut und die Tat-
sache, daß ich mich vor diesem hübschen Mädchen in die
Brust werfen konnte, machten mir etwas warm ums Herz
und milderten meine Verlorenheit. Sie sprach Deutsch mit
slawischem Akzent. Ich hatte offensichtlich eine Volksdeutsche
vor mir. Ich freute mich darüber, daß sie mich angesprochen
hatte und lud sie ein, mit mir spazierenzugehen. Sie nahm
an, und wir gingen in der Richtung weiter, die ich zuvor
eingeschlagen hatte. Ich hatte wohl das Richtige gesagt, mei-
ne Gesprächspartnerin schien beeindruckt; ich selbst wurde
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dadurch etwas von meinem wahren, dem erschütterten und
schmerzerfüllten Ich abgelenkt.
Meine neue Freundin schaute mich unentwegt bewundernd
an. Sie erzählte mir, sie stamme aus der Ukraine und sei im
Zuge der deutschen Umsiedlungspolitik mit ihrer Familie in
den Westen gekommen. Ihr Vater leiste irgendwo im Osten
seinen Wehrdienst, und sie wohne mit ihrer Mutter und ihrer
Schwester in einer neuen Wohnung, die man ihnen bei ihrer
Ankunft kostenlos zugeteilt habe. Ihren Worten zufolge war sie
noch nie im Reich gewesen, was aber ihr sehnlichster Wunsch
zu sein schien. Zwar hatte sie schon Wehrmachtssoldaten ge-
troffen, aber noch nie einen leibhaftigen Hitlerjungen wie mich.
Die jungen Volksdeutschen verehrten die Hitlerjugend und
hofften, daß sich die Bewegung bald auch in Lodz gründen
würde. Ihre Begeisterung war ehrlich, und es machte mir Spaß,
mich mit ihr zu unterhalten. Es berührte mich eigenartig,
daß das Schicksal ausgerechnet mich dazu ausersehen hatte,
die junge Elite des Führers zu repräsentieren, zu der ich wider
Willen gehörte. Um sie nicht zu enttäuschen und meine Rolle
eines Vertreters des Reiches überzeugend zu spielen, heuchelte
ich ebensogroße
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